Essay: Der Mythos des Orpheus im Zusammenhang mit Alfred Andersch´s Roman „Die Rote“  

Verfasst von: Alexander Miró (Hamburg, 1999)

Einleitung

Wenn man sich die Struktur des Romans ‘Die Rote’ von Alfred Andersch[1] ansieht, werden einem schnell einige Besonderheiten, einige prägnante Elemente des Textes auffallen. Es sind Stilelemente, die es dem Leser vereinfachen, gewisse Charaktereigenschaften der Darsteller besser zu verstehen. So werden innerhalb des Romans verschiedene Medien vorgestellt, die auf die mit ihnen in Verbindung stehenden   Figuren offenbar einen Einfluß ausüben. Vorgestellt werden ein Film, ein Bild sowie eine Oper. Mit diesen Medien werden Assoziationen von Gedanken, Vorstellungen und Gefühlen verbunden, die den darstellenden Figuren zugeschrieben werden können. Es sind Ausdrucksmittel, die ihrerseits eine ihnen eigene Geschichte in sich tragen, die Andersch mit der Individualität seines Darstellers verbunden haben möchte.

Im folgenden werde ich auf den Mythos des Orpheus eingehen. Er bildet die Grundlage für die gleichnamige Oper von Claudio Monteverdi, auf die der Roman zweimal eingeht. Hier ist es die Figur des Fabio Crepaz, des Violinisten, der die Oper im Orchester der Fenice-Oper begleitet und sich so mit dieser beschäftigt. Es soll auf die Frage eingegangen werden, weshalb Andersch den Mythos des Orpheus in Bezug auf Fabio für wichtig hält. Ob, und wenn ja, welche Gemeinsamkeiten es gibt, die die Figuren miteinander Verbindet.

Erste Begegnung mit der Oper

Die erste Begegnung mit der Oper und mit dem Mythos des Orpheus fällt bezeichnender Weise, auch hierin kann die Bedeutung der Oper für Fabio erahnt werden, mit dem ersten Erscheinen des Fabio zusammen. Er wird als Geiger vorgestellt, der sich musikalisch und sinnierend mit der Oper und dem Orpheus beschäftigt. Ausgangspunkt ist die Frage, ob das Gefühl, daß er mit der Oper verbindet, als Resignation bezeichnet werden kann. Er selber reflektiert seinen eigenen musikalischen Zugang zur Musik und versucht, sich über die eigene Interpretation derselben klar zu werden. Wo aber liegen die Ursprünge der ihn bei dieser Musik übermannenden Resignation? Worauf ist diese zurückzuführen?

Italo Michele Battafarano interpretiert die Resignation Fabios dadurch, daß dieser sie bereits in der Oper Monteverdis wiederfinde. Fabio empfinde die Resignation als angemessene Reaktion Monteverdis auf eine Welt, in der es chic sei viel Geld zu verdienen und zynisch zu sein.[2] Fabio also ein Mensch, der sich über seine Situation, beinahe fünfzig, keine Kinder, geschlagener Revolutionär und „…irgendein Mensch, der sehr ordentlich Violine spielte, wenige Freunde hatte, die er aber nicht zu Hause traf, sondern gelegentlich, nach dem Theater, in der Bar bei Ugo, einer der allein lebte, in zwei Zimmern, die er einer Witwe abgemietet hatte…“, klar zu werden begann?[3] Resignation als (zu Beginn des Romans aufgestelltes) Fazit eines mißlungenen Lebens. Eines Lebens, in dem er nicht einmal mehr das ‘concitato’, das er spielen soll aber nicht kann, für wichtig hält.

In dieses Bild webt Fabio nun die Figur des Orpheus ein. Orpheus als dunkle und stille Figur. Im Vordergrund steht für Fabio dessen Verlust der Eurydike. Der Verlust des geliebten Weibes, weil Orpheus sich dem Willen des Gottes Pluto widersetzte und sich auf dem Weg aus der Totenwelt nach seiner Frau umsah, was diese mit dem endgültigen Tod bezahlte. Die Vertonung der Sage durch Monteverdi geschieht in Fabios Augen in einem zeitlosen Rahmen. Ein Rahmen, der sich nicht in einem „Ausbruch von Leidenschaft“ ergießt, sondern einen „Eindruck von magischer Trauer“ hinterläßt, der auch heute noch seine Wirkung und Aussagekraft behält.[4] Er nennt es das Ewige in der Kunst, was durch die ‘richtige’ Einschätzung der Situation durch Monteverdi erreicht wurde.

Zweite Begegnung mit der Oper

Die zweite Begegnung mit der Oper findet gegen Ende des Romans statt. Auch hier steht eher die Sage, der Mythos des Orpheus im Vordergrund als die Musik des Monteverdi, deren Wert für Fabio jedoch ausser Frage steht. Fabio entwickelt hier eine ihm selber merkwürdig erscheinende Gefühllosigkeit gegenüber dem Schicksal des Orpheus. Er beginnt auf rationaler Ebene das Verhalten der Götter zu kritisieren, das er als Fehlerhaft einschätzt, da sie von Orpheus, und damit von den Menschen, Vertrauen fordern wo, Wachsamkeit von Nöten wären. Gleich darauf korrigiert er jedoch seine eigene Kritik und stellt den Menschen in den Mittelpunkt der Verantwortung, da er es sei, der sich die Götter erschaffen habe. Dies bedeutet, daß nicht der Gott der Schuldige ist; nicht der Gott ist dafür verantwortlich, daß der Mensch sein Liebstes (in Gestalt der Frau) verloren hat, sondern er selber ist es. Orpheus als Inbegriff des künstlerischen Menschen, bei dem der Mythos den Menschen und die Gottheit nicht mehr eindeutig voneinander zu trennen weiß, dessen künstlerische Inspiration jedoch als das Werk der Götter, ja als göttlich schlechthin verstanden wird, dieser wird von Fabio in die Verantwortung genommen zu kritisieren. Fabio stellt die Frage, weshalb Orpheus kritiklos und in völliger Hingabe sich dem Willen der Götter unterworfen hat. Er ist für Fabio „das tragische Opfer göttlicher Sinnlosigkeit“[5]. Es ist einerseits eine Anklage, andererseits ein Vorwurf an Orpheus, da Fabio davon überzeugt ist, daß die Götter sich der Kritik und des Hinterfragens stellen würden – sie würden dies geradezu fordern.

Diesen Gedanken entdeckt er in der Musik Monteverdis wieder. Er interpretiert die in dieser Musik enthaltene zeitlose Stimmung, die Stimmung der Ewigen Kunst als wachsame Frage des Komponisten nach dem Warum.

Die Musik Monteverdis  stände, dieser Interpretation nach, als Synonym für den Menschen, der Kritik übt. Die Sinnlosigkeit wird somit in der Kunst, die sowohl Monteverdi als auch Orpheus zu eigen sind, relativiert – die Kritik offenbart sich in der Musik der Oper. Fabio redet denn auch von einem „Pianissimo, um die Götter zu Überlisten“; sie wird benutzt, um das von Fabio angemahnte Versäumnis zu widerlegen.[6]

Interpretation des Orpheus im Zusammenhang mit Fabio

Der Mythos des Orpheus taucht in verschiedenen Varianten auf. Immer ist es jedoch Orpheus, der sich dem Willen der Götter widersetzt und somit Eurydike für immer an das Reich der Toten fesselt.[7] Orpheus ist derjenige, der mit tragischer Schuld beladen ist, sich an den Göttern versündigt und dadurch mit dem Tod der Ehefrau bestraft wird. Die Schuld erscheint bei ihm darüber hinaus besonders gewichtig, da er selber in der Mythologie als der Sohn des Gottes Oiagros und der Muse Kalliope erscheint, also ein ‘Halbgott’ ist. Die Strafe, die ihn ereilt, ist daher mit göttlichem Maß bemessen und daher ‘überirdisch’; die Auswirkung jedoch ist irdischer Natur. Orpheus’ Gestalt wandelt zwischen dem irdischen und dem göttlichen. Seinen Ausdruck findet dies darin, daß die geistige Gestalt des Orpheus im göttlichen, der körperliche Teil jedoch im irdischen Dasein zu finden ist.

Diesem Bild der Teilung, der Ambivalenz begegnet auch Fabio, während er die Oper von Monteverdi spielt. Er erlebt einerseits die tragischen und leidenden Elemente des Orpheus, dessen Schicksal er als göttliche Sinnlosigkeit charakterisiert, und andererseits erhebt er mit „rebellischer Nüchternheit“[8] die Forderung der Kritikfähigkeit des Menschen gegenüber den Göttern. So schwankt Fabio in seinem Spiel zwischen gefühlvollem und Ausdrucksstarkem concitato und der harten und nüchternen Interpretation. Fabio empfindet ebenso Mitleid mit der tragischen Figur des Orpheus, gleichzeitig jedoch macht er dessen irdischem Teil einen Vorwurf.

Die Oper von Monteverdi und dessen mythische Hauptfigur ist für Fabio ein Bild und eine Art Gleichnis. In seinen Überlegungen stellt er die Verbindung zu sich selber und zu seiner Umgebung her. Er stellt Menschen, Entwicklungen und Erfahrungen aus seinem Lebensbereich in einen Bezug zu den mythischen Figuren und erkennt dadurch die eigenen Fehlleistungen. Er erkennt die Problematik der eigenen Person innerhalb der Umwelt und verfällt in Resignation – was beim Schicksal der mythischen Figur nicht verwunderlich ist. Die Musik (die Kunst als Ausdrucksmittel) stellt hier die Verbindung her zwischen seinem erlebten Leben (das den irdischen Erlebnissen des Orpheus entsprechen würde) und dem herbeigesehnten Ideal seiner Person, dem erhofften Glück (zu dem er später, in der Figur der Franziska, gelangt[9]). Sie, die Musik, als die ewige und zeitlose Kunst, ist das Bindeglied zwischen Wahrheit und Traum, zwischen erleben und erhoffen.

Zusammenfassung

Orpheus als mythische Figur erscheint in vielen künstlerischen Arbeiten. Er ist es, der sich dem Willen der Götter mittels der Musik widersetzen kann, dem jedoch das Glück versagt wird, da er sich nicht über das menschliche in ihm, den irdischen Teil des Orpheus, hinweg setzen kann. Es ist eine zeitloses Thematik, die mit den verschiedensten Bildern immer wieder von neuem erzählt wird, in der der Mensch versucht, sich gegen die Götter zu erheben, deren Zorn auf sich lenkt und letztlich sein eigenes Glück verspielt. Und auch das Verhalten Fabios, der in dem Schicksal des Orpheus parallelen zu seinem eigenen sucht, ist nachvollziehbar. Die Figur des Fabio, der sein eigenes Leben mit Wehmut betrachtet, der, wie auch Orpheus, sich um sein Glück betrogen fühlt, ist eng mit dem Mythos verbunden.

Es ist gleichermaßen das Gefühl der Resignation, als auch die Forderung der Kritik, dem Willen, sich gegen dieses Schicksal zu erheben, was ihn mit dem Orpheus verbindet. Für Fabio ist diese Ambivalenz nur durch die Kunst zu überwinden. Durch Kunst läßt sich sowohl der Schmerz der Resignation, als auch die unausgesprochene aber unüberhörbare Kritik ausdrücken.

Literatur:

Andersch, Alfred: Die Rote. Diogenes Verlag, Zürich 1972.

Battafarano, Italo Michele: Alfred Anderschs Italien-Roman „Die Rote“: Zwischen Claudio Monteverdi und Michelangelo Antonioni. In: Heidelberger-Leonard, Irene / Wehdeking, Volker (Hrsg.): Alfred Andersch. Perspektiven zu Leben und Werk. Westdeutscher Verlag. Bad Homburg 1994, Seiten 109 – 119.

[1] Andersch, Alfred (1972).

[2] Battafarano, Italo Michele (1994), Seite 110.

[3] Andersch, Alfred (1972), Seite 19.

[4] Andersch, Alfred (1972), Seite 20.

[5] Andersch, Alfred (1972), Seite 223.

[6] Andersch, Alfred (1972), Seite 223.

[7] Wobei Orpheus nach seinem Tode, einigen Schilderungen nach, wieder im Reich der Toten mit seiner Frau vereint wird.

[8] Andersch, Alfred (1972), Seite 222.

[9] Dies zumindest in der ersten Fassung des Romans.

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