Essay: Platons Menon

Verfasst von: Alexander Miró (Hamburg, 1999)

 

Inhalt:

Gliederung und Grundmotive des Menon

1. Teil

2. Teil

3. Teil

Literaturhinweise

 

 

Gliederung und Grundmotive des Menon

Für mich erhalten im Dialog Menon dreierlei Hauptlinien eine hervorstechende Prägnanz: Zum ersten wird innerhalb des gesamten Dialogs (im Besonderen jedoch im ersten Teil) die Spannung zwischen der Einheit und der Zerstückelung des menschlichen Wesens aufrechterhalten, was schließlich in die Frage mündet, inwieweit sich der Mensch in die Enge einer Definition pressen läßt. Ein weiterer wesentlicher Gesichtspunkt deutet sich im Mittelteil an, der sich nur Scheinbar von der Ausgangsfrage, nach der Wesenheit und Lehrbarkeit der Tugend entfernt: Er beschäftigt sich mit der Frage nach der Lösung und Befreiung der Seele vom Körper und der Vorbereitung  auf das Leben im Jenseits. Die dritte, und aus meiner Sicht wesentlichste Aussage, ist die hier immer wieder zum Ausdruck gebrachte und dem Dialog immanente Staats- und Erziehungskritik Platons, die sich vor allem im letzten Teil entfaltet.

Der Dialog gliedert sich damit in 3 Teile. Im ersten Teil steht die Frage nach der Tugend im Mittelpunkt, wobei der Mensch durch immer neue Erklärungsansätze immer durchsichtiger wird. Es finden hier am Anfang noch einige Definitionsversuche der Tugend statt, die jedoch in das Eingeständnis beider Protagonisten des Nichtwissens bezüglich des Wesens der Tugend münden, wodurch zugleich verdeutlicht wird, daß sich das Wesen des Menschen nie in die Enge einer Definition pressen läßt. Jetzt steigt über der Aporie sehr plötzlich der Mittelteil empor und gibt den Blick frei in den Jensseitsmythos und verbindet mit solchem Blick in das Jenseits aller Erfahrung den scheinbar schärfsten Gegensatz: die Geometrie. Aus dem Eingeständnis der Unmöglichkeit im Mittelteil, die Frage zu lösen, nämlich, ob die nicht zu bestimmende Tugend lehrbar sei, erwächst der Hauptaspekt des Dialogs im 3. Teil. Im Schlußteil sucht Sokrates, durch den Mittelteil im Geheimen genährt, eine Antwort auf diese Frage die der Sache nach nicht in einfachem Ja oder Nein, sondern nur in dialektischem Auf und Ab gefunden werden kann. Sokrates steigt, nach dem Blick ins Jenseitige im Mittelteil, ins Tiefe hinab und weist den Staatsmännern, was ihnen fehlt. Somit verbirgt sich im 3. Teil der Kampf der Erziehungsprinzipien zwischen Sokrates, den Sophisten und den Staatsmännern, was in einer neuen Stufenordnung des Seins endet.

Es wird deutlich, daß Menon und Sokrates sehr unterschiedliche Ansichten von Tugend haben. Menon, ein geldgieriger Söldner und Schüler Gorgias, steht in der Tradition der Sophisten und verbindet mit Tugend vor allem Machtstreben und das kühne Durchbrechen bürgerlicher Normen. Sokrates hingegen möchte sich wirklich mit der Frage der Tugend und der Aufklärung ihrer tieferen Wesenheit auseinandersetzen, so daß sich der Dialog in der ständigen Spannung steht zwischen der Frage, ob Tugend lehrbar sei und dem Hinweis Sokrates´, daß man genaues erst sagen könne, wenn man weiß, was Tugend an sich ist (ein Problem, das in ähnlicher Art schon bei ‚Protagoras‘ zum Ausdruck kommt).

1. Teil

Im Menon wird die Möglichkeit des Erziehens übergeleitet in die Wesensbestimmung der Tugend, wobei Menon am Anfang die Tugend nicht begrifflich erfaßt, sondern einfach verschiedene Tugenden auflistet, die alle verschieden sind (es ist zu vermerken, daß auch Aristoteles in seinem Buch Politia eine Auflistung von Tugenden vornimmt und sich damit gegen Sokrates wendet).

Auch Platon hat verschiedene Tugenden anerkannt, hat daraus aber die eine Gebildet, in der sie konvergieren, wobei Menon als Sophistenschüler bei der Mannigfaltigkeit der Tugenden als letztem stehen bleibt (was Aristoteles wiederum nicht tut). Hat Sokrates erst nach einer Tugend gefragt, so fragt er nun nach ihrem Wesen, worauf Menon nun eine der Tugenden herausgreift: die Mannestugend, also die Fähigkeit über Menschen zu herrschen. Damit hat er die Vielheit zwar aufgegeben, aber die Einheit ist erreicht auf Kosten jeder Gültigkeit und auf die Gefahr hin, daß Tugend zur Untugend wird. Der Hinweis, daß Herrschen nur in Verbindung mit Gerechtigkeit zur Tugend wird, ruft bei Menon jedoch keine Einsicht hervor, da er gleich darauf wiederum mehrere Tugenden aufzählt. Sokrates versucht nun das alles identische durch Gestalt und Farbe zu erklären (wobei er einmal eine mathematische Formel als Erklärung benutzt (Form als Begrenzung von Körperschaften) und zum anderen die Farbe mit einer physikalischen Theorie definiert) und begeht absichtlich den Fehler, daß er die Gestalt durch die Farbe, ein X durch ein Y, definieren will, was Menon ihm mit recht nicht durchgehen läßt. Er weist nun auf die Dialektik der Methode hin. Sokrates gefällt nun die mathematische Definition besser, weil sie unmittelbar eingesehen werden kann, während man der physikalischen Definition eine Theorie voraussetzt, die nicht ohne Zweifel richtig zu sein braucht. Menon hingegen gefällt die letztere besser, da sie wie ein Theater schmecke: Man sieht, was dem Rhetorenschüler Kriterium des Vorziehens ist, und wie Sokrates ihn belehrt, das Klare und Einsichtige zu wählen vor dem Eindrucksvollen. Ordnet sich nicht die Arete der Seinsart des Begrenzten unter ebenso wie die Berechnung der Körper, während die Farbe und die Lust eher dem Reich des Unbestimmten, Grenzenlosen zugehört.

Damit geht Menon zur nächsten Definition der Tugend über indem er ihn ihr das Begehren des Schönen sieht und das imstande sein es sich zu verschaffen (es läuft aufs Herrschen hinaus). Die Kritik an Menon ist jedoch die, daß, was vor der formalen Kritik eine Tautologie ist (das man nämlich auch das Schlechte wollen könnte), das bedeutet vor der sachlichen die Unmöglichkeit, daß der Mensch sich anders als für das Gute entscheide, was sich daran mißt, was nach der Tautologie übrigbleibt. Tugend sei die Fähigkeit, die guten Dinge für sich zu gewinnen. Tugend liegt damit nicht im sich verschaffen des Schönen, sondern darin, es mit Gerechtigkeit geschehen zu lassen, womit jedoch die Tugend wiederum zerstückelt ist. Formal stellt sich das so dar, daß man die gesuchte Sache durch einen Teil ihrer selbst zu bestimmen meint, so daß man ein X durch ein Y definiert, über das man sich ebenso wenig klar ist.

2. Teil

Im Mittelteil wird das Wesen der Situation geklärt und der Ausweg gewiesen. Dieser Weg wird so beschritten, daß die Dialogführer sich der Unmöglichkeit die Frage zu lösen, bewußt werden. Der Vergleich Sokrates´ mit dem Zitterrochen, aufgrund der Wirkung seiner lähmenden Erkenntnis der Aporie, wird von diesem dahingehend beantwortet, daß er nicht nur bei anderen diese Aporie bewirke, sondern er selber sei selber in ihr. Das sokratische Nicht-Wissen als die Voraussetzung seines Erziehens wird hier deutlich. Ebenso der Wille zur Hilfe, was wiederum zur Lösung des Problems, was ist Tugend, beiträgt.

Für die Lösung des Problems, ob die Tugend lehrbar gelehrt und gelernt werden könne, wird eine Klärung angedeutet auf der Basis einer Theorie des Erkennens, die unter vielen Aspekten  neuartig ist und unter der Metapher der Wiedererinnerung eingeführt wird. Jedoch beschränkt sich Platon im Dialog nicht nur auf eine Reproduktion des Mythos von der These der Wiedererinnerung und damit der unsterblichkeit der Seele. In Wirklichkeit werden in der im Dialog unmittelbar folgenden Diskussion die Rollen umgekehrt: Die Schlußfolgerung aus einem Mythos wird zur Interpretation eines gleichsam experimentell gesicherten Datums, während die mytohlogische Voraussetzung, die der Grundlegung zu dienen schien, zur abgeleiteten Folgerung wird. Dies geschieht dadurch, daß, wenn der Sklave nicht gelehrt wurde und Sokrates ihn nicht unterrichtet hat die einzige Schlußfolgerung nur sein kann, daß er sich an etwas erinnert hat, was er schon immer in sich hatte, d.h. der Sklave kann aus sich selbst Wahrheiten, die in der Seele verborgen sind, hervorholen, womit die Unsterblichkeit der Seele nachgewiesen ist. Die Folgerung, daß Lernen nichts anderes als Wiedererinnern ist, wird mit einer ironischen Kritik am eristischen Zweifel der Erkenntnis verpackt, die dem Schlaffen sicherlich angenehm im Ohr klinge, denn die Begründung der Erkenntnis, wie sie im Mythos gegeben wird, mache die Menschen tätig und sucherisch.

Die nun folgende mathematische Beweisführung entfernt uns nur auf den ersten Blick vom Thema, da hier sowohl die Beweisführung auf eine Welt verweist, die mit irdischen Augen gemeinhin kaum zu durchschauen ist und damit mit dem Mythos in diesem Sinne vergleichbar wird. Die Beweisführung vollzieht sich nun in 3 Etappen: In der ersten Etappe Sokrates fest, daß der Schüler fälschlich zu wissen glaube, die Lösung bereits zu kennen. Auf der zweiten bringt er ihn zur Einsicht in die Aporie als notwendigen Durchgangspunkt. Die dritte Etappe führt letztlich zur Lösung des Problems durch Wiedererinnerung. Bereits auf der ersten Ebene des Menon erschien uns die mathematische Beweisführung der ‚Gestalt‘ als Gleichnis zur Tugend, die dort jedoch in der Aporie steckengeblieb, während wir hier nun emporgehoben werden zur Wirklichkeit des Seienden (in der Schrift ‚Politeia’ führt dies zum dem, was hinter dem Seinenden liegt, zum Unsagbaren) und auch hier eröffnet sich uns ein Problem der offensichtlichen Irrationalität (die Aufgabe erscheint so) und wird damit zum Unsagbaren. Am Ende wird die Seele als eine gezeigt, die immer die Wirklichkeit des Seienden in sich trägt und darum unsterblich ist. Es geht Sokrates hier nicht um den bestimmten Mythos, sondern der Mythos ist für ihn der Aufruf zur Aktivität, so daß hierin der platonische Pragmatismus offenbar wird. Der Menon benutzt die Ewigkeit der Seele, um die Möglichkeit des Erkennens-Lernens-Verstehens gegen sophistischen Zweifel zu sichern, was diesen Dialog in eine Verwandtschaft zum ‚Phaidon‘ rückt, wo die Ewigkeit der Seele umgekehrt durch die Erkenntnis des ewig seienden verbürgt wird.

 

3. Teil

Die Seele wurde uns im 2. Teil sichtbar in ihrer eigentlichen Tätigkeit, dem Suchen nach der Wirklichkeit des Seinenden, und diese Erfahrung dient der ethischen Grundaufgabe: dem eigenen Besser-werden. In solchen Tiefen also muß die Antwort gesucht werden gleichzeitig auf die Frage nach dem  Wesen und nach der Lehrbarkeit der Tugend.

Im 3. Teil kehrt Platon nun zurück zur Problematik des 1. Teils: nämlich zur Lehrbarkeit und der Wesensfrage der Tugend, ein Problemfeld, das für Platon untrennbar zusammengehört, als Symbol der Einheit von Erkenntnis und Lehre. Wesen und Lehrbarkeit werden durch Sokrates so ein ums andere mal in einen festen Zusammenhang gebracht: Wenn die Tugend Wissen ist dann ist sie lehrbar.

Die Basis der folgenden Ausführungen ist die Feststellung, daß die Tugend etwas Gutes, ein Gut ist. Wenn man demzufolge zeigen kanndaß es außerhalb des Wissens kein Gut gibt, so ist die Tugend als Wissen und mithin Erziehung als möglich erwiesen. Wurde bereits im ersten Teil gezeigt, das nicht das bekommen von Gütern, sondern das gerechte beschaffen von eigentlicher Bedeutung ist, so entsteht an dieser Stelle eine deutlichere Stufenfolge der Werte. Güter des Leibes (Schönheit, Kraft usw.) und welche, die im weiteren Sinne zum Menschen gehören (wie etwa Reichtum), sind entweder schädlich oder nützlich, was wiederum vom richtigen Gebrauch derselben abhängt. Entsprechend sind auch die Tugenden der Seele mal nützlich und mal schädlich (wie das Beispiel der Tapferkeit zeigt). Letztlich jedoch ist es die Einsicht (das Wissen), was allem erst zur Glückseligkeit werden läßt – und Tugend fallen also zusammen oder das Wissen ist doch wenigstens ein Teil der Tugend.

An dieser jedoch beginnt die Gegenbewegung, da Sokrates einen Fehler seiner Beweisführung entdeckt. Hat Sokrates bereits in der Schrift ‚Apologie‘ seine Menschenprüfung an Dichtern und Staatsmännern geübt und dabei ihr Nichtwissen aufgedeckt, so führt er hier seine Prüfung der Politiker fort. Die Prüfung läuft in diesem Dialog auf die Frage hinaus, weshalb die Staatsmänner ihr Können auf niemanden übertragen haben – den Hintergrund der Frage jedoch bildet eine breite Kritik des traditionellen Erziehungssystems. Hinter Sokrates´ Frage liegen tiefe Vorwürfe, da es hier nicht nur um ein sophistisches Wortgefecht, sondern um das Leben geht. Anytos fühlt sich getroffen, da er sich selbst zu einem solchen Staatsmann und damit zum Vertreter des Systems, das Sokrates hier angreift zählt: praktische Staatskunst oder politische Tugend lerne man in einer festen Überlieferung, die sich von den Vorfahren auf die Nachkommen vererbt. Das Erziehungssystem festgefügter Aristokratien, wie es etwa in dem Rom der älteren Republik durchaus Wirklichkeit war, ist demzufolge in Athen ein leerer Anspruch. Um so heftiger jedoch wird er gerade hier vertreten. Gerade aus diesem Grund ist die Feindschaft von Anytos gegen die Sophisten (und somit auch gegen Sokrates so scharf, die durch ihr Dasein, ihr Wirken, jenes Erziehungssystem der Tradition in Frage stellen. An Sokrates also bricht sich die Frage das Erziehungssystem – besser des Nicht-Erziehungssystems – welches Anytos vertritt.

Wurde am Anfang des 3. Teils erst der Erkenntnischarakter und dann die Lehrbarkeit dialektisch bewiesen, so wird diese nun in der Gegenbewegung wiederlegt, da es weder Lehrer noch Schüler für die Tugend zu geben scheint. Die Antinomie aufzulösen ist Aufgabe des Schlußteils. Der Widerspruch ist ist entstanden durch eine starre Gegenüberstellung von Wissen und Nicht-Wissen, der nun aber durch den Einbezug der richtigen Meinung überwunden wird, so daß sich ein Stufensystem der Entkenntnisformen abzeichnet, in welchem die richtige Meinung, jener eigentlich menschliche Bereich, als ein Mittleres eingeordnet ist zwischen den Grenzfällen des reinen Wissens und des reinen Nichtwissens. Das Verhältnis von Meinung und Wissen bestimmt Sokrates so, daß jede durch die Rechenschaft über die Ursache fest gebunden werden müsse, damit Erkenntnis aus ihr werde. Nach der Fixierung der wahren Meinung als Erkenntnisstufe, werden die Politiker Athens als göttliche Männer dieser Erkenntnisstufe zugewiesen und damit aus der Verdammnis befreit.

Zum Abschluß steigt der politische Mann als eine Ahnung auf, der auch andere zum politischen Männern machen kann. Entlassen werden wir mit dem Hinweis, daß dieses Ergebnis jedoch nur ein Vorläufiges sein kann, da für eine eindeutige Klärung erst geprüft werden müsse, was Tugend eigentlich sei.

Literaturhinweise

– Friedländer, Paul: Platon. Die Platonischen Schriften. Erste Periode. Bd. I. Berlin 1964. Kapitel 19. S.255-272.

– Reale, Giovanni: Die Begründung der abendländischen Metaphysik: Phaidon und Menon. In: Kobusch, Theo/ Mojsisch, Burkhard: Platon. Seine Dialoge in der Sicht neuer Forschung. Darmstadt 1996. S. 64-79.

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