Essay: Die Genese der Scham

Verfasst von: Alexander Miró (Hamburg, 1999)

 

Inhalt:

1. Einleitung

2. Einfließende Theorien

3. Genese der Scham

4. Entwicklung von Reflexivität, Abbild und Repräsentanzen

5. Zusammenfassung und Kritik

Literaturhinweis:

 

 

1. Einleitung

Jeder Mensch wird sich ein Gefühl repräsentieren können, bei dem er am liebsten im Boden versinken möchte, bei dem er sich den Blicken der Öffentlichkeit unangenehm ausgesetzt fühlt. Er sieht sich in eine Situation versetzt, die ihm äußerst mißfällt und aus der er sich befreien möchte. Zudem beginnen körperliche Reaktionen (Erröten, Herzklopfen usw.) sein Bewußtsein einzuschränken. Ich rede vom Zustand der Scham bzw. des Schamaffektes. Die Scham ist andererseits ein wichtiger Bestandteil unseres psychischen Bewußtseins. Sie ist aber auch eng an das in unserer Kultur entwickelte Norm- und Wertebewußtsein gebunden und trägt unter anderem dazu bei, daß dieses eingehalten und akzeptiert wird.[1] Nicht zuletzt hierdurch ist auch das soziologische Interesse an der Scham zu begründen.

Wie gesagt hat die Scham auch in unserem psychischen Apparat eine wichtige Funktion. Unsere Psyche reagiert außerordentlich empfindlich auf Störungen, wie sie durch den Schamaffekt hervorgerufen werden. Dies führt dazu, daß auch unser Verhalten und unser Umgang mit anderen Menschen durch diese Affekte beeinflußt werden.

Um das Verhalten der Menschen besser verstehen zu können (was sowohl soziologisch als auch psychologisch gemeint ist), ist es daher unumgänglich sich mit der Scham auseinanderzusetzen. Hierbei spielt eine wesentliche Rolle, wie sich Scham entwickelt, wie und wann sie entsteht. Das dies ein sehr komplexer Vorgang ist, ist evident. Dies bedingt jedoch, daß die zur Erklärung der Scham entwickelten Modelle ebenfalls an Komplexität und Abstraktion gewinnen.

Einen Versuch die Hürde der verschiedenen, nebeneinander existierenden Modelle zu verbinden stellt der Ansatz von Günter Seidler dar. Er untersucht zwar die Scham aus dem Blickwinkel der Psychoanalyse, versucht aber darüber hinaus andere psychologische Theorien in seinen Ansatz „einzuweben“ und damit einen übergreifenden Erklärungsansatz zu formulieren.

2. Einfließende Theorien

Günter Seidler schlägt bei seinen Analysen der Scham einen recht ungewöhnlichen und dadurch auch recht schwierigen Weg ein. So integriert er in seine Überlegungen mehrere gängige Theorien und Modelle aus der Psychologie, um die Entwicklung der Scham aus einer anderen, erweiterten Perspektive zu verdeutlichen. Es handelt sich hierbei um:[2]

            – die klassische Theorie der biographisch-lebensgeschichtlich orientierten  Psychoanalyse

            – die Objektbeziehungstheorie

            – die Selbstpsychologie

            – die Affekttheorie

            – und die moderne Säuglingsforschung.

Seidler benutzt also deren „Begriffskonstruktionen“ und Termini als Bausteine, aus denen er seinen Ansatz zusammensetzt. Er begründet diesen Ansatz damit, daß die Scham selber so facettenreich ist, daß sie nur in einem theorieübergreifenden Erklärungsansatz dargestellt werden kann.

3. Genese der Scham

Seidler versucht nun mit dem zuvor dargestellten „Handwerkszeug“ die Genese der Scham zu erarbeiten. Für ihn ist die Scham ein zentraler Bestandteil des psychischen Apparates. Er präzisiert deshalb seinen Ansatz dahingehend, daß er von der „Genese der Psychodynamik der Scham, einschließlich ihrer in diesem Zusammenhang relevanten, notwendigen Bedingungen“ redet.[3] Seidler datiert den Beginn der Entwicklung des Schamaffektes in die zweite Hälfte des zweiten Lebensjahres. Den Bezug zu diesem Lebensabschnitt entwickelt er aus der Psychoanalyse. So ist diese Zeit (unter psychoanalytischer Sicht) der Kindesentwicklung geprägt durch den Partialtrieb der  analen Phase. Das Kind erfüllt in dieser Phase seine libidinösen Triebwünsche mit der (mechanischen) Reizung des After und der Darmzone. Darüber hinaus ist hier aber auch ein wichtiger Abschnitt der Ich-Entwicklung zu sehen, da hier der Ursprung dafür zu sehen ist, daß das Kind künftig dazu in der Lage ist zwischen Selbst und Objekt zu unterscheiden. Das Kind lernt innerhalb dieses Lebensabschnittes, das sich von ca. 1.5 – 3 Jahren erstreckt, daß es durch seinen Willen einen Einfluß auf seinen Darminhalt ausüben kann. Es entdeckt die Möglichkeit mittels des Schließmuskels seinen Darminhalt Zurückzuhalten. Der Darminhalt wird somit als das erste Geschenk empfunden, der an die Umwelt entäußert werden kann: „Er ist offenbar wie ein zugehöriger Körperteil behandelt, stellt das ‘erste Geschenk’ dar, durch dessen Entäußerung die Gefügigkeit, durch dessen Verweigerung der Trotz des kleinen Wesens gegen seine Umgebung ausgedrückt werden kann.“[4] Seidler sieht in dieser Entwicklung also nicht nur die libidotheoretische Perspektive der Kindesentwicklung, sondern er verbindet damit auch die Objektgenese und die Selbst-Objekt-Differenzierung, die sich folgendermaßen darstellt. Dadurch, daß das Kind in der Lage ist selber darüber zu entscheiden ob es dem Willen der Mutter nachkommt und seinen Darminhalt entleert, erlebt das Kind das Vorhandensein einer Grenze zwischen innen und außen. Diese Grenze wird erfahren durch die Möglichkeit, seine Innenwelt (nämlich den Darminhalt) willentlich (mit dem Schließmuskel) von der Außenwelt zu trennen. Aus dieser Trennung zwischen innen und außen wird für das Kind gleichermaßen eine Erkenntnis über seine eigene Subjektivität und die Objektivität der Außenwelt gewonnen. „Das neue Element dieser analen Phase ist die Verfügbarkeit des Schließmuskels; er konstituiert Innen und Außen, die wahrnehmbare, erlebte Körperinnenwelt und die soziale Außenwelt.“[5]

Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, daß der reale Aspekt der muskulären Tätigkeit eher in den Hintergrund tritt, die hierdurch entstehende Symbolisierungsfähigkeit des Kindes aber eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung der Scham darstellt. Für Seidler ist somit der Entstehungszeitpunkt des Schamaffektes in dem geschilderten Zusammenhang von beginnender Symbolisierungsfähigkeit, Objektgenese und Abgrenzungsfähigkeit zu suchen.

4. Entwicklung von Reflexivität, Abbild und Repräsentanzen

Wie dargestellt, integriert Seidler die psychosexuelle Entwicklung des Kleinkindes (also die phasenspezifischen Entwicklungsstufen), um eine temporäre Einordnung des Schamaffektes vorzunehmen. Eine etwas veränderte Sichtweise der Selbst-Objekt-Entwicklung erhalten wir, wenn wir uns dieser Ontogenese mit dem Begriff der Reflexivität nähern.

Reflexivität bedeutet „sich selber zum Objekt nehmen zu können“, also „ein Wissen davon zu haben, wie die eigene Person aus einer Außenperspektive wahrgenommen wird“. [6] Seidler nennt diesen Zustand der Reflexivität eine „Drei-Punkte-Konfiguration“. Um diesen Zustand zu erreichen ist es nötig, daß das Kind die Position eines Gegenüber einnehmen kann, um sich selber aus dieser Fremdperspektive zu beobachten. Danach muß es, mit dem internalisierten Bild seiner selbst aus der Außenposition in seine eigene Position zurückkehren. Hierdurch erhält das Kind die Möglichkeit der „Verdoppelung seiner Selbst als ‘objektive Selbst-Bewußtheit’“.[7] Es erhält also die Möglichkeit, sich selber darüber gewahr zu werden, wie es selber aus der Sicht einer anderen Perspektive wirkt.

Die Herausbildung der Reflexivität ist eng mit der Entwicklung eines anderen Vermögens des Kleinkindes verbunden, nämlich der Abbildungsfähigkeit. Die Abbildungsfähigkeit, die wiederum eng mit der Entwicklung der Symbolisierungsfähigkeit des Kindes verknüpft ist, stellt die erweiterte Möglichkeit des Kindes dar, seine eigene Identität herauszubilden, sich also von der Mutter und von anderen Objekten bewußt abzutrennen. Die Abbildung unterbricht den Zwang des Kindes, sich eines Objektes sinnlich-motorisch verfügbar zu machen. Dies geschieht durch eine „Besetzung“ des entsprechenden Objektes mit verschiedenen Merkmalen (Symbolen), die sich das Kind leichter ins Bewußtsein rufen kann. Hierdurch ist das Kind zunehmend in der Lage, sich des Bildes eines Objektes auch dann bewußt zu werden, wenn es räumlich von diesem getrennt ist. Auch hier wird also eine Entwicklung zur Trennung zwischen der eigenen Identität und einem Objekt vollzogen; dadurch nämlich, daß nun auch die räumliche Trennung zu einem Objekt vollzogen werden kann, ohne dabei die Selbst- und die Objektbewußtheit zu verlieren. Das Kind ist sich somit der eigenen Ich-Haftigkeit und des davon getrennten Objektes auch bei dessen Abwesenheit „bewußt“.[8]  

Wie Reflexivität und Abbildung ist auch ein weiterer Entwicklungsschritt eng mit der Schamentwicklung verbunden, nämlich die Herausbildung der Selbstrepräsentanz, die als „abstraktere Form“ der Abbildungsfähigkeit des Kindes verstanden werden kann. Während die Abbildungsfähigkeit mit visuellen Eindrücken verbunden ist, läßt sich die Repräsentanz auf einer wesentlich abstrakteren Ebene darstellen. Sie ermöglicht es dem Kinde „eigene Gefühle zu benennen, anstatt sie auszuagieren“[9] – ist somit bereits auf der abstrakten Sprachebene zu lokalisieren. Mit der Ausbildung der Repräsentanzfähigkeit ist es dem Kind nun möglich, sich nicht nur auf der räumlichen Ebene zu bewegen, sondern es bedeutet darüber hinaus eine „‘Beweglichkeit in der Zeit’: Die Rückgriffsmöglichkeit auf Erinnertes macht Antizipation möglich.“[10]

Durch die Entwicklung der Reflexivität, der Abbildungsfähigkeit und der Repräsentanzfähigkeit ist es dem Kinde nun möglich, sich der eigenen Ich-Haftigkeit, also der Trennung zwischen dem eigenen Selbst und den Objekten, und dadurch der eigenen Privatheit bewußt zu werden.

Für die Entwicklung der Scham gewinnt dies dadurch seine Relevanz, als das diese nun als Grenze zwischen dem Innen und dem (nun davon abgespaltenen) Außen verstanden werden kann. Die Scham ist als Grenze zu verstehen, indem durch sie das sich zu weite Öffnen des Selbst (die völlige Offenlegung des eigenen Selbst) nach außen verhindert wird. Was mit der Beherrschung des eigenen Darminhaltes (mittels des Schließmuskels) beginnt wird an dieser Stelle in abstrakterem Maße weitergeführt.

5. Zusammenfassung und Kritik

Seidler versucht in seinem Text verschiedene Modelle aus der Psychologie zu vereinigen und daraus die Genese der Scham zu entwickeln. Diese setzt er, wie dargestellt, in die zweite Hälfte des zweiten Lebensjahres. Hier fungiert die Scham als eine Art natürlicher Grenze zwischen innen und außen. Dokumentieren läßt sich dies, nach Seidler, zum erstenmal in der analen Phase der Kindesentwicklung, in der das Kind diese innen-außen-Beziehung durch die Beherrschbarkeit des Darminhaltes durch den Schließmuskel erfährt. Das Kind entwickelt in dieser Phase die Möglichkeit seine eigene Identität von den Objekten in seiner Umgebung zu unterscheiden – es entdeckt die Ich-Haftigkeit seines Selbst.

Seidler schlägt mit seiner Analyse der Scham einen durchaus sinnhaften Weg ein, der sich darüber hinaus von anderen Untersuchungen dadurch unterscheidet, daß er das Untersuchungsfeld, in dem sich Scham entwickelt, wesentlich ausweitet, nämlich auf fünf verschiedene psychologische Ansätze. Gerade hierdurch jedoch läuft er Gefahr, sich des Vorwurfes der willkürlichen Auswahl der die Scham determinierenden Faktoren auszusetzen. Dies da einige, ebenfalls sehr wichtige Modelle der Psychologie innerhalb der geführten Diskussion für ihn keinerlei Bedeutung erlangen (etwa der Behaviorismus[11]). Die Frage, weshalb also gerade diese Modelle (s.S. 2) bei der Genese der Scham von Seidler als wichtig erachtet werden, scheint mir hier nicht deutlich genug beantwortet. Darüber hinaus ist es offensichtlich mit (verständlichen) Schwierigkeiten verbunden, die Terminologie der unterschiedlichen Untersuchungsansätze in einem diese übergreifenden Modell zu vereinen. Verwirrende Aussagen können somit zu erheblichen Verständnisschwierigkeiten führen.

Insgesamt betrachtet ist der Versuch Seidlers ein übergreifendes Modell der Schamentwicklung zu entwerfen jedoch durchaus als positiv zu bewerten, da nicht zuletzt dadurch erst die komplizierten psychischen Faktoren eine ausreichende Beachtung erfahren.

 

Literaturhinweis:

Seidler, Günter H.: Der Blick des Anderen. Eine Analyse der Scham.  Stuttgart 1995.

[1] Vgl. Lexikon zur Soziologie. W. Fuchs-Heinritz/R. Lautmann u.a. (Hrsg.). Opladen 1995.

 
 

[2] Seidler, Günter H.: Der Blick des Anderen. Eine Analyse der Scham.  Stuttgart 1995. Seite 127f.

 
 

[3] Seidler, G. (1995), Seite 128.

 
 

[4] Seidler, G. (1995), Seite 130. Zitiert nach Freud 1905d, Seite 86.

 
 

[5] Seidler, G. (1995), Seite 132.

 
 

[6] Seidler, G. (1995), Seite 134f.

 
 

[7] Seidler, G. (1995), Seite 136.

 
 

[8] Seidler versucht dies anhand des Beispiels mit der Fremdenangst zu erläutern. Ab einem gewissen Alter läßt sich an der Reaktion des Kindes erkennen, daß die erwartete Mutter mit Symbolen verknüpft ist. Da die nun in Erscheinung tretende Person derlei Symbole, wie sie mit der Mutter verknüpft sind, jedoch nicht aussendet, reagiert das Kind mit Verwirrung. Vgl. Seidler, G. (1995), Seite 136.

 
 

[9] Seidler, G. (1995), Seite 138.

 
 

[10] Seidler, G. (1995), Seite 139.

 
 

[11] Würde sich nicht das sich hierin äußernde Reiz-Reaktionsschema dieser Theorie sehr passend in die Theorie der Entwicklung der Scham durch Sozialisierungsmechanismen einfügen lassen?

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