Veränderungen der Institution Ehe im Wandel der Zeit

Verfasst von: Alexander Miró (Hamburg, 1999)

 

Inhalt:

1. Wandlungsprozesse der Ehe: Von der bürgerlichen zur modernen Ehe

1.1 Wandlung der Ehe

1.2 Die Bürgerliche Ehe

1.3 Die moderne Liebesehe

2. Das Eheverständnis heute und die unterschiedlichen Ehetypologien

3. Aushandlungsprozesse und Institutionencharakter der Ehe

3.1 Aushandlungsprozesse als Teil der partnerschaftlichen Realität

3.2 Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung der Ehe

Literaturhinweise:

1. Wandlungsprozesse der Ehe: Von der bürgerlichen zur modernen Ehe

1.1  Wandlung der Ehe

Ehe läßt sich als eine (relativ) dauerhafte und rechtlich legitimierte Lebens- und Sexu­algemeinschaft zweier (ehe-)mündiger und verschiedengeschlechtlicher Partner verstehen. Sie hat im laufe der Geschichte wesentliche Wandlungen vollzogen was dazu führt, daß wir im 20 Jh. eine deutlich andere Vorstellung von und einen anderen Umgang mit Ehe haben als etwa im 18. und 19. Jh. Bis weit in die Neuzeit hinein dominierte eine sachlich-nüchterne Ein­stellung zur Ehe, die sowohl die Partnerwahl als auch die eheliche Beziehung selbst prägte. Die sachliche Einstellung zur Ehe begründete sich daraus, daß sie entweder eine Arbeitsgemeinschaft darstellte oder, beim Adel, aus politischen und Machtinteressen arrangiert wurde.

 

1.2 Die Bürgerliche Ehe

Mit der Entstehung des bürgerlichen Standes bildete sich nun ein neues Ehe- und Familienideal, was durch das Wort der Liebesehe charakterisiert ist, wobei sich die bürgerliche Gesellschaft meist selber nicht an diesem Ideal orientierte, da auch hier noch größtenteils ökonomische Gründe für die Ehe im Vordergrund standen. So war es etwa Frau aus finanziellen Gründen meist gar nicht möglich, einen Heiratsantrag abzulehnen. Nichts desto trotz steht die bürgerliche Ehe auf der Schwelle zwischen der ökonomisch begründeten Ehe und der modernen Liebesehe. Die Trennung von Wohnung und Arbeitsplatz und die weitestgehende Entlassung der Frau aus dem Arbeitsbereich sorgte dafür, daß sich eine neue Qualität der Gefühlsbeziehungen zwischen Kindern und Eltern, sowie zwischen Mann und Frau ausbilden konnte. Die Änderung der Beziehung zwischen Mann und Frau brachte jedoch nicht nur eine emotionale Annäherung der Geschlechter mit sich, sondern sie sorgte auf der anderen Seite auch für eine größere Differenz: es wurde die durch das Wesen der Geschlechter vorgegebene Zuständigkeit von Binnen- und Außenbereich propagiert und zugleich die von Gott gewollte Ungleichheit von Mann und Frau und die Abhängigkeit der Frau akzentuiert. Eine wesentliche Änderung, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausgebildete, lag in der neuen Vorstel­lung von der Ehe als Institution. Die Stilisierung der Familie zur Institution und die patriarchalische Struktur dieser Institution sollten gesellschaftliche Oasen des Privatlebens schaffen und die Gefahr der Zersplitterung aller sozialen Strukturen durch einen auf die Spitze getriebenen Indi­vidualismus bannen. Dieses Idealbild der Ehe gemäß der freien Liebe kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Realität z.T. erheblich davon abwich: So sorgten Massenarmut, gesetzliche Heiratsbeschränkungen sowie die ungleichen Ausgangsbedingungen von Mann und Frau, für oftmals ausufernde nebeneheliche Geschlechtsbeziehungen, zu „wilden Ehen“ und ‚freien Verhältnissen‘.

 

1.3 Die moderne Liebesehe

Ein Trend, der sich seit der beginnenden Industrialisierung bis in die Gegenwart zieht, ist zum einen die Bedeutung der Zweierbeziehung, die zur wichtigsten Quelle des privaten Glücks geworden ist, und zum anderen aber auch die zunehmende Störanfälligkeit der Ehe. So findet der heute verbreitete Anspruch, daß (nur) eine befriedigende Beziehung die Basis eines dauerhaften Zusammenlebens sein könneim romantischen Liebesideal seinen Wegbereiter, was automatisch die Emotionalität und auf Dauer angelegte Verbindung der Beziehung in den Vordergrund rückt.

Die wichtigsten Veränderungen, die das Verhältnis des Paars nach außen betraf, waren 1. Die schrittweise Individualisierung der Partnerwahl; 2. die (Re-) Säkularisierung der Ehe, was dem ehelichen Institutionencharakter den Weg ebnete; 3. die demokratisierung des Rechts auf Ehe und  4. der Rückzug des Paars in den Bereich der Privatheit. Das Paar, früher in die Familie eingebunden, tritt heute als eine eigene soziale Einheit immer deutlicher hervor, in der eine doppelte Individualisierungstendenz zu verzeichnen ist: zum einen die Emanzipation des Individuums, zum anderen die Akzentuierung des Paars. Damit ist die Ehe heute der Kontakt zwischen zwei gleichstehenden Partnern, bei dem beide immaterielle Gratifikationen eingehen müssen. Und noch etwas bewirkt diese Individualisierungstendenz: Die Trennung von Ehe und Elternschaft. So gehören kinderlose Ehen heute zum selbstverständlichen Erscheinungsbild einer vielfältigen Ehelandschaft. Kinder erhalten heute eine andere Bedeutung als früher, da es nicht mehr die objektive ‚Notwendigkeit‘ ihrer Anwesenheit, wie etwa die Alterssicherung oder als Arbeitskräfte, gibt, so daß ihre Bedeutung heute mehr in den Bereich des privaten Glücks fällt. Eine weitere Facette des Individualisierungsprozesses wird in der wachsenden Emanzipation der Frau deutlich, die große Auswirkung auf die Paarbeziehung hat. Dies drückt sich zum einen in der Freiheit der Frau aus, die Mutterrolle ganz zurückzuweisen oder über die Zahl der eigenen Kinder entscheiden zu können, zum anderen aber auch in der wachsenden ökonomischen Emanzipation der Frau aus der Abhängigkeit des Ehemannes. Die wachsende Individualisierung führt aber auch dazu, daß die Ehe zunehmend instabiler wird, was sich in den steigenden Scheidungsraten widerspiegelt. Diese drücken sowohl die überhöhten und in der Folge enttäuschten Glückserwarten an die Ehe aus, sie zeigen aber auch, daß es aufgrund der weniger starren Geschlechtsrollen und der nicht mehr so klaren patriarchalen Struktur des Eheverhältnisses, für die Paare schwieriger wird, sich in der Ehe zurechtzufinden.

Diese Tendenzen weisen damit zu einem neuen Eheverständnis als partnerschaftliche Ehe, das sich seit den 80er Jahren ausbildet: Nämlich die Lebensgemeinschaft als Lernprozeß, bei dem die Frau und der Mann in der Ehe deutlich voneinander ge­trennte, eigenständige Persönlichkeiten bleiben und einander dabei das Recht auf eine eigene Entwicklung zubilligen. Die reife Liebe ist aus dieser Sicht nicht mehr eine symbiotische Verschmelzung, son­dern eine Vereinigung, bei der die eigene Integrität und Individualität erhalten bleibt. Das heutige Eheideal ist dies einer dauerhaften romantischen Liebe, die auf einer leidenschaftlichen, umfassend geistig-gefühlsmäßig-sexuellen Zuneigung zwischen Mann und Frau, sowie auf hoher Wertschätzung der Person des Partners beruht. Die dauerhafte Beziehung ist vom Wunsch nach stabiler Identität geprägt. Damit bedeutet die Lösung vom Partner immer auch einen Verlust von Teilen des eigenen Selbst. Treue bedeutet so letztlich auch Treue zu sich selbst und der eigenen Geschichte, als einem in sich zusammenhängenden, sinnvollen Prozeß, dessen Zukunft immer aus der Vergangenheit hervorgeht.

 

2. Das Eheverständnis heute und die unterschiedlichen Ehetypologien

Im historischen Vergleich scheint die Bedeutung der Ehe heute in der dauerhaften emotionalen Bindung zwischen den Ehepartnern in Verbindung mit einer starken Kindorientierung zu liegen. Somit scheint die Ehe und Familie heute zu einer bewußten und erklärten Sozialisationsinstanz für Kinder geworden zu sein. Entsprechend wird heute bei der Heirat überwiegend an die Familienplanung gedacht, die an bestimmte Sicherheitsbedürfnisse gekoppelt ist. Zugleich folgt die Entscheidung für Heirat immer weniger sozial vorgezeichneten und verbindlichen Mustern – so stellte sich die Heirat in den 50er Jahren noch wesentlich stärker als eine ökonomische Notwendigkeit und moralische Pflicht dar als heute. Dies darf jedoch nicht über den nach wie vor hohen Symbolgehalt der Ehe und über ihre normative Verbindlichkeit hinwegtäuschen. Die dominierende Idee ist jedoch, die Ehe als Gefährtenschaft zu sehen, eben als Vertrauensbeziehung, die auf Dauer angelegt, allen anderen Beziehungen vorgeordnet ist und damit einen Sicherheitsgewährenden Aspekt enthält, der sich nicht zuletzt auch auf finanzielle Sicherheit bezieht. Dies um so mehr, da die Unsicher­heiten und die steigenden Anforderungen an die individuelle Anpassungsfähigkeit im außerfamiliären Bereich steigen, so daß wenigstens im privaten Bereich Sicherheit gesucht und gewünscht wird. Vor allem von Männern wird die Ehe in diesem Sinne als Basis beschrieben, als Zuflucht, als Hafen, aus dem man in die feindli­che Welt geht und in den man zurückkehrt um emotionale und körperliche Zuwendung zu erhalten. Dies weist bereits auf einen anderen Aspekt der Ehe hin, bei dem der Partner, die Beziehungsqualität als solche sowie ihre emotionale Bedeutung in den Vordergrund rückt. Man möchte wissen wo man emotional und sozial hingehört und man möchte mit dem Partner zusammen etwas aufbauen. So weisen sämtliche Untersu­chungen auf die bleibend starke emotionale Bedeutung der Beziehung hin – was jedoch auf Kosten der institutionellen normativen Absicherung von Partnerschaft und Elternschaft geht. Zugleich forcierte der Individualismus als dominierendes Wertmuster moderner westlicher Gesellschaften, aber auch die romantische Liebe zwischen den Geschlechtern.

Die Ausführungen verweisen damit auf verschiedene Ehetypologien, die von Heike Matthias-Bleck wie folgt zusammengefaßt werden:
– Beim 1. Typus tritt die ökonomische Absicherung in den Vordergrund, so daß damit die Ehe als materielle Versorgungsinstanz betont wird.

– Für den 2. Typus bedeutet die Ehe eine legale Absicherung, d. h. eine Regelung bestimmter Situationen, die vor einer Eheschließung rechtlich ungesichert/ungeklärt waren, wie etwa das Vaterschaftsrecht oder die Regelung von Besitzverhältnissen.

– Für den 3. Typus bedeutet die Ehe eine kulturell-normative Selbstverständ­lichkeit. Die Eheschließenden orientieren sich an bestehenden traditionell-kulturellen Normen hinsichtlich des Heiratserhaltens.

– Beim 4. Typus wird die Ehe als Abgrenzungssymbol verstanden, so daß diese für die öffentlichen Dokumentation der Zusammengehörigkeit beider Partner gewählt wird.

 

3. Aushandlungsprozesse und Institutionencharakter der Ehe

Die Ausführungen verdeutlichen, daß die moderne Ehe sich mit wesentlich anderen Problem- und Konfliktfeldern auseinandersetzen muß, als etwa die traditionell bürgerliche Ehe: Im folgenden möchte ich daher auf zwei Fragestellungen eingehen, die in diesem Zusammenhang eine wesentliche Bedeutung erlangen: zum einen ist die Frage, wie die Paare mit den neu entstandenen Freiheiten umgehen, zum anderen gilt es zu sehen, inwieweit der Institutionencharakter der Ehe weiterhin bestand hat oder ob es einer Revision der Vorstellung von der Ehe als Institution bedarf.

3.1 Aushandlungsprozesse als Teil der partnerschaftlichen Realität

Die zunehmenden Individualisierungsprozesse haben ein Doppeltes Gesicht: Auf der einen Seite ist darin die Chance zu mehr Freiheit enthalten, verstanden als Erweiterung des Lebensradius, als Gewinn an Handlungsspielräumen und Wahlmöglichkeiten, auf der anderen Seite folgen hieraus aber auch neue Ri­siken, Konflikte und Brüche im Lebenslauf. In der Moderne wird die Lebenswelt des einzelnen zwar offener, aber auch komplexer und widersprüchlicher und das Individuum muß mehr Einzelleistung aufbringen, um sich hier zurechtzufinden, was wiederum die Ehe an Bedeutung gewinnen läßt. Andererseits bringt dies aber auch neue Belastungen mit sich: Das, was die große Chance der persönlich gewählten Gemeinsamkeit ist, die Schaffung einer eigenen Welt jenseits der Vorgaben von Familie, Verwandtschaft und Sippe, fordert den bei­den Beteiligten enorme Eigenleistungen ab, da die Partner ihre Gemeinsamkeit nun selbst entwerfen müssen. Die Differenzierungsprozesse, die die Ehe heute bedeutender machen, erschweren zugleich den gemeinsamen Entwurf: Denn die beiden, die sich miteinander verbinden, sind heute in weit stärkerem Maße als früher Fremde, das heißt, sie kommen aus unterschiedlichen Lebensmilieus. Damit wird das Paar aus der gemeinsamen Vergangenheit herausgerissen, was wiederum die gemeinsame Verständigung erschwert. Das heißt, umge­kehrt formuliert, daß ein sichernder und stützender äußerer Rah­men, also die gemeinsame Sache, immer weniger existiert und vielmehr im individuellen Aushandeln hergestellt werden muß.

Zudem haben die Geschlechter sehr unterschiedliche Erwartungen an die Ehe. Durch die wachsende Individualisierung auch der Frau, wird sie daher immer weniger jene Lösungsform akzeptieren, die Generationen vorher praktizierten: nämlich die Anpassung an den Mann, unter Preisgabe der eigenen Erwartungen und Wünsche. Jetzt haben beide Partner ein Mitspracherecht und damit die Chance, eigene Rechte und Interessen einzubringen. Denn jetzt müssen in immer mehr Situatio­nen zwei Menschen mit ihren je eigenen Erwartungen, Wünschen, Neigungen einen gemeinsamen Weg finden, was wiederum mehr Anlaß zur Uneinigkeit gibt und daher den Bedarf an Abstimmungsprozessen erhöht – ein »Beziehungsmanagement durch Aushandeln» be­ginnt. Es bedarf nun der ständigen Worte um den entstandenen Freiraum der Privatheit zu definieren – Stichwort: Beziehungsarbeit. Dies wiederum führt uns zu den gewachsenen Ansprüchen an die Ehe: man will nicht mehr miteinander auskommen, sondern man will Glücklich dabei werden, was wiederum Raum für Enttäuschung gibt. Denn je höher die Erwartung ist, desto eher wird man die Partnerschaft auch als ungenügend empfinden und da man nun nicht mehr unlösbar miteinander verbunden ist, da der institutionalisierte Rahmen der Ehe nicht mehr vorhanden ist, ist auch die Trennung zu einem legitimen Mittel der eigenen Glückserwartungen geworden.

 

3.2 Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung der Ehe

Dies führt zu der Frage, wie die in den letzten 20 Jahren in den westlichen Industriegesellschaften fast überall zu beobachtende Reduktion der institutionellen Qualität von Ehe zu erklären ist. Tyrell versucht hierfür mittels des Konzepts der Deinstitutionalisierungeine soziologisch adäquate Beschreibung zu liefern. Tyrell geht davon aus, daß es in unserer Gesellschaft ausschließlich zwei Wege der Familienentstehung gibt, nämlich die Ehe und die Filiation. Mit Ehe und Filiation sind exklusiv und vollständig die bei­den Rekrutierungsprinzipien benannt, die familiale Zusammengehörigkeit unabweisbar herstellen. Ehe und Familie in dem genannten Sinne, also im Sin­ne des festen Verweisungszusammenhangs der genannten Momente, sind auf diese Weise kulturell in­stitutionalisiert worden. Der familiale Wandel der letzten 20 bis 30 Jahre, läßt sich nun als Prozeß der Deinsitutionalisierung beschreiben, was eine Reduktion, nicht jedoch einen Abbau des Institutionellen meint und sich vorrangig auf die Ehe bezieht. Der Zusammenhang der institutionellen Qualität und der Deinstitutionalisierungstendenz der Ehe wird von Tyrell in 5 Punkten expliziert:

1. Eine gesellschaftliche Institution bedarf im Normalfall der Legitimierung. Die Legitimation der Ehe als einzige natürliche und angemessene Form des Geschlechterverhältnisses wird aufgrund verschiedenster Gründe hergestellt: Etwa aufgrund ihres Alters, ihrer Natürlichkeit im biologischen Sinne, der Heiligkeit der Familie im religiösen Sinne oder auch aufgrund des aus medizinischer Sicht gesunden und hygienischen Charakters der Ehe. Seit den 60 Jahren ist nun aber ihre spezifische „Alleintauglichkeit“, aber auch die Legitimität ihrer rechtlichen Privilegierung massiv bestritten worden. Überdies war der Rekurs auf die Familie als „natürliches“ oder „heiliges“ Kulturgut weitgehend abgeschnitten, so daß sich auch der wissenschaftliche Bereich gegen das Familienmodell wendete.

2. Der Ehe kommt herkömmlich eine Monopolstellung bezüglich des Zusammenlebens zwischen Mann und Frau zu, was zum einen durch den staatlichen Trauzwang und zum anderen durch Diskriminierung der unverheirateten als wilde Ehe gewährleistet wird. Seit der fortschreitenden Zugangserleichterung zur Ehe im 19. Jh. für alle Teile der Bevölkerung, verstärkt sich nun der Verweis auf die Ehe und sie wird zu einem wesentlichen Moment (ja Kriterium) des Erwachsenseins, während der unverheiratete oft der Diskriminierung ausgesetzt war. Kulturell wird damit alles auf die Dichotomie zwischen Ehe und Nicht-Ehe zugespitzt. Deinstitutionalisierung heißt hier nun der Verlust der exklusiven Monopolstel­lung von Ehe. Dies bedeutet zum einen, daß unverheiratetes Zusammenleben mehr und mehr an Stigma und Diskriminierung verliert und zum anderen, daß auch das Alleinleben zur sozial akzeptablen Alternative geworden ist.

Hieran schließt sich nun direkt ein weiterer, 3. Punkt an: Wenn bisher jeder auf Ehe und Familie verwiesen war (Inklusion), so hat das auch eine motivationale Folge: Tendenziell jeder ist in seinen Aspirationen und Lebensplänen auf Ehe und Elternschaft hin disponiert; die Ehepartner- und Elternrolle sind attraktive Rollen, die im Leben tendenziell von jedermann/jederfrau „erwünscht“ ist. Der drastische Rückgang der Eheschließungen seit der Mitte der 60er Jahre kann nun als eine „motivationalen Rezession“ der Institution Ehe gedeu­tet werden. Damit kann die Deinstitutionalisierung also im Sinne einer „Motivationskrise“ der Ehe verstanden werden.

4. Institutionalisierung meint aber auch das Geltendmachen sozialer Normen und Soll-Vorstellungen, woraus zugleich auch die soziale Kontrolle als Verhinderung devianten Verhaltens oder zu deren Sanktionierung erwächst. Das bedeutet für die Familie, daß Handlungen gegen die Kernlogik des familialen Zusammenlebens lange Zeit der strafrechtlichen Verfolgung unterlagen. Im Zuge der Deinstitutionalisierung der Ehe ist nun der weitgehende Abbau eben dieser Art von sozialer Kon­trolle zu verzeichnen. Die Kontrollapparatur, ist damit weitgehend kollabiert und dabei auch ihrer Legitimität, ihrer moralischen Ambitionen entkleidet.

Das letzte Stück der Deinstitutionalisierungsthese zielt auf den Abbau elementarer Selbstverständlichkeiten, die das herkömmliche Familienmuster implizierte, so vor allem auf die Auflösung des kohärenten Sinn- und Verweisungszusammenhangs, der die „Einheit“ des Ganzen herstellte. So drängte der Rekurs auf die romantische Liebe unweigerlich auf die Ehe, was wiederum selbstverständlich auf ein Zusammenleben und Kinder verwies. Die heutige Deinstitutionalisierung lockert diesen Sinn- und Weisungszusammenhang auf und das ‚Paket‘ der alten Institution ist aufgeschnürt. Die einzelnen Elemente sind gegebenenfalls „isolierbar“ und für sich zugänglich, aber auch in verschiedenen Varianten und in einer unterschiedlichen Reihenfolge ihrer Komponenten frei kombinierbar.

Literaturhinweise:

– Beck-Gernsheim, Elisabeth: Freie Liebe, freie Scheidung. Zum Doppelgesicht von Freisetzungsprozessen. In: Beck, Ulrich/ Beck-Gernsheim, Elisabeth: Das ganz normale Chaos der Liebe. Frankfurt/M. 1990. S. 105-134

– Hettlage, Robert: Familienreport: eine Lebensform im Umbruch. München 1992.

– Kaufmann, Franz-Xaver: Zukunft der Familie: Stabilität, Stabilitätsrisiken und Wandel der Familialen Lebensformen sowie ihre gesellschaftlichen  und politischen Bedingungen. München 1990.

– Klein, Thomas: Heiratsmarkt und ‚Marriage Squeeze‘. Analysen zur Veränderung von Heiratsgelegenheiten in der Bundesrepublik. In: Nauck, Bernhard (Hg.): Familie im Brennpunkt von Wissenschaft und Forschung. Neuwied, Kriftel, Berlin, Luchterband 1995.

– Matthias, Heike: Eheschließung: Bedeutung, Gründe und Typologien. In: Nauck, Bernhard: Familie im Brennpunkt von Wissenschaft und Forschung. Neuwied, Kriftel, Berlin, Luchterhand 1995. S.383-398.

– Matthias-Bleck, Heike: Warum noch Ehe?: Erklärungsversuche der kindorientierten Eheschließung. Bielefeld 1997.

– Schenk, Herrad: Freie Liebe – wilde Ehe. Über die allmähliche Auflösung der Ehe durch die Liebe. München 1987.

– Tyrell, Hartmann; Herlth, Alois: Partnerschaft versus Elternschaft. In: Herlth,  Alois; Brunner, E.J.; Tyrell, H.; Kriz, J. (Hg.): Abschied von der Normalfamilie. Partnerschaft kontra Elternschaft. Berlin, Heidelberg, New York u.a. 1994.

– Tyrell, Hartmann: Ehe und Familie – Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung. In: Lüscher, Kurt/ Schultheiß/Wehrspaun (Hg.): Die ‚postmodere‘ Familie: Strategien und Familienpolitik in einer Übergangszeit. Konstanz 1988.

– Weiss, Hilde: Liebesauffassungen der Geschlechter. Veränderungen in der Partnerschaft und  Liebe. In: Soziale Welt, 46. Jg., 1995. S. 119-137.

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