Analyse von Hesses Roman ‚Der Steppenwolf‘ vor dem Hintergrund des analytischen Ansatzes von C.G. Jung

Verfasst von: Alexander Miró (Hamburg, 1999)

 

Inhalt:

1. Einleitung

2. Jungs psychologischer Ansatz

2. Entwicklung des Protagonisten

3. Entgegengesetzte Pole beim Protagonisten

3.1 Lösungsvisionen für den inneren Zwiespalt

4. Figuren im Steppenwolf

4.1 Hermine

4.2 Maria

4.3 Pablo

4.4 Die Unsterblichen

5. Romanschluß

Literaturhinweis

 

1. Einleitung

Die  nachfolgende Analyse versucht aufzuzeigen, daß Hesses Selbstinterpretation für das Werk als Ganzes gilt und seine Tiefenstrukturen sich nur einer derarti­gen Betrachtungsweise öffnen – nämlich wenn auch für das ganze Werk die Sonaten-Dreiteilung angenommen wird. Das Vorwort des Her­ausgebers bringt die Exposition des essentiell neurotischen Grundkonfliktes des Protagonisten aus einem distanzierten Blickwinkel eines neutralen Beobachters. Die  sich  an das Vorwort  anschließenden  Aufzeichnungen Hallers  entsprechen  der ,,Durchführung“  in der  klassi­schen  Sonatenform. Hier wird der zuvor beschriebene Konflikt durch das unmittelbare Erleben des Ich-Erzählers konkretisiert, wobei in dessen Mittelpunkt dabei Hallers ambivalentes Verhältnis zum Bürgertum steht. Nachdem nun die Exposition des Vorwortes den Grundkon­flikt Hallers theoretisch antizipiert und die Durchfüh­rung der  ersten  Aufzeichnungssequenz  die Problematik persönlich verankert, thematisch erweitert und ersten Lösungsvisionen zugeführt hat, erbringt der Tractat als Reprise eine Wiederaufnahme aller bisherigen Motive und

einen ersten Anlauf zu ihrer gedanklichen Klärung. Interessant ist, daß auch der Traktat selber sich in drei  Teile gliedert und damit auch in sich selbst jenen klassischen Dreischritt der Sonate birgt. Der erste Teil nimmt die Grundproblematik der  Persön­lichkeitsspaltung noch einmal auf, erweitert sie durch weitere Einzelsymptome und stellt sie in einen systema­tischen anthropologischen Zusammenhang. Dabei wird deut­lich,  daß das eigentliche Problem Hallers in jenem unversöhnlichen Verhältnis  von Ich und Schatten (Mensch und Wolf) zu sehen ist und  das auf eine ungewöhnlich eindrückliche Weise seine Disposition zur Neurose veranschaulich. Im zwei­ten Teil des Trsctats folgt eine allgemeine Anthropologie, die diesen Befund in eine systematische psychologische Ty­penlehre zu integrieren versucht und Hesses Bild vom Menschen in gültiger Form zusammenfaßt. Im dritten und letzten Teil der Schrift werden bestimmte Lösungsvisionen für den inneren Zwiespalt Hallers thema­tisiert und diskutiert.

Bei genauerer Betrachtung, markiert der Traktat jedoch die eigentliche gedanklich-psychologische Ausgangsposition des Romans und seines Protagonisten und stellt damit die Exposition des literarischen Sonatenhauptsatzes dar. Er gibt ein objektives und einigermaßen umfassendes Bild von Hallers innerem Zustand,  seinen Hoffnungen und Perspektiven vor Beginn des eigentlichen Individuationsprozesses, so wie er in den nachfolgend Aufzeichnungen des Ich-Erzählers beschrieben  wird. Im Mittelteil, der Haupthandlung des Romans, werden nun die im Traktat genannten Leitmotive (Selbsterkenntnis, Verselbstung und Hu­mor) kunstvoll miteinander verwoben und schließlich in die spezifische Lösung einmün­den, mit der diese Dichtung die Individuationsproblematik behandelt und zu lösen versucht. Trotz aller inneren Fortschritte, die Haller im Zusam­mensein mit  Hermine, Maria und Pablo gemacht hat und trotz der  erheblichen Besserung seines Allgemeinbefindens ist ihm der entscheidende Durchbruch bislang noch nicht gelungen:  Von den beiden Wegen zur Erlösung, dem Humor oder die Realisie­rung des Selbst hat er noch keinen zu realisieren ver­mocht, was den Roman in den Schlußteil, das Magische Theater mit seiner vorweggestellten rituellen Einführung durch den Maskenball, führt.

 

2. Jungs psychologischer Ansatz

Freud und Adler sehen Grund und Anfang alles psychischen Geschehens in der Sexualität bzw. im Machtstreben. Jung sah neben diesen durchaus wichtigen Triebfaktoren auch noch an­dere Faktoren, so vor allem das geistige oder teleologische Bedürfnis (das Streben auf ein best. Ziel hin), als bewegende Elemente des Psychischen an und wei­gerte sich, bei der Erklärung psychischer Störungen die Vorherrschaft einem einzigen Triebfaktor zuzusprechen. In diesem Sinne steht bei ihm der Polymorphismus (Viel-, Verschiedengestaltigkeit) der primitiven Natur die schöpferische Tätigkeit des Geistes gegenüber und als deren Er­gebnis der Prozeß der Selbstwerdung, der der immerwährenden Span­nung zwischen den beiden Bereichen des Psychischen, nämlich den natürlichen Trieben, also dem biologischen Urgrund der Psyche, und dem Geist entspringt. Löste Freud in seinem Ansatz die Gegenwart in der Vergangenheit auf und suchte den Grund für den derzeitigen Zustand im früher erlittenen Trauma, so suchte Jungs konstruktive Methode gleichzeitig auch individuelle Wege für eine künftige Entfaltung der Persönlichkeit zu finden. Somit besteht Jungs Methode darin, daß sie über die bloße Analyse hinaus die hier beobachteten Absichten und Impulse des Unbewuß­ten als Symbole betrachtet, welche die Grundtendenz der künftigen Entwicklung der Persönlichkeit anzeigen.

Überträgt man nun diesen theoretischen Unterbau auf Lessings Steppenwolf, der von der psychoanalytischen Theorie C.G. Jungs sehr beeinflußt ist, so wird die Wende im Leben des Protagonisten in der Regel durch die psychotherapeutische Einmischung einer der Nebenfigu­ren herbeigeführt, indem er durch diese zur Einsicht von Ursachen des eigenen psychischen Leidens gebracht und Schritt für Schritt auf seine künftige Entwicklung hin vorbereitet wird. Die Figuren (z.B. Hermine) treten dabei gewissermaßen als Psychotherapeuten auf und tragen dadurch dazu bei, ihn entsprechend seiner individuellen Veranla­gung und der prospektiven Zielrichtung seiner Seele, die in den Sym­bolen des Unbewußten zum Ausdruck kommen, neu zu orientieren und dadurch zu einer entscheidenden Wandlung seiner psychischen Einstellung und seines innern Lebens im Ganzen zu gelangen.

 

2. Entwicklung des Protagonisten

Hesse gliedert nun die Entwicklung seiner Romanfigur in zwei Phasen des Selbstwerdungsprozesses. Hesse benutzt die erste Phase des Selbstwerdungsprozesses, die dem Menschen die Einordnung in seine Umwelt und Anpassung an die kollektive Norm zur Aufgabe stellt, für die Herstellung eines semantischen Feldes, das einen sujetlosen Text bildet und dem gesamten Geschehen als Hintergrund und notwendige Grundlage dient. Dieser sujetlose Text gliedert den Roman in zwei konträre und einander sich ausschließende Teile: 1. Die Welt der sittlichen Ordnung, der Normentsprechung und der Angepaßtheit und die Welt der magischen Wirklichkeit, die hinter der Verbotslinie liegt und Quelle des Übels ist. Erst wenn sich der sujetlose Text endgültig ausgebildet hat und die Klassifikationsgrenze zwischen den einander gegenüberliegenden Welten deutlich ausgeprägt ist, beginnt das Romangeschehen, das den sujethaltigen Text bildet, deutlichere Umrisse zu gewinnen. Beachtlich ist dabei, daß die Entstehung des Ereignisses und folg­lich auch des Sujets in Hesses Romanen mit der zweiten Phase des Individuationsprozesses zusammenfällt, welche die Schlußetappe des inneren Werdegangs der Hauptfigur markiert. Somit entsteht das Ereignis in Hesses Prosa durch nichts anderes als den bewußten Versuch der Figur (im Gegensatz zu den früheren unbewußten Grenzüberschreitungen), die die Außen- und Innenwelt trennende Scheidewand zu überwinden, hinter die Grenze des Bewußtseins durchzustoßen und die auseinanderstreben­den Pole der eigenen Seele zu einem harmonischen Zusammenklang zu bringen. Hierzu ist die zweite Phase der Individuation wichtig, die in der Absonderung des Einzelwesens von der Ununter­scheidbarkeit der Masse besteht, für die das Verbot der Überschrei­tung der semantischen Grenze seine Gültigkeit nie verliert, und in der Hinwendung zum ,,eigenen Gesetz”, das sich ausschließlich durch die Übertretung der Grenze verwirklichen läßt.

Es kennzeichnet den Weg vom Kollektivmenschen zum differenzierten Individuum, dessen Ziel die Erlangung der ihm innewohnenden Ganzheit ist, was zugleich die Triebfeder für das Romangeschehen ist. Die Individuation soll nun ein Gleichgewicht zwischen den Gegensätzen und die Ganzheit der Person bilden, was dadurch geschieht, daß sie die Energie, die aus der Spannung des Ungleichgewichts entsteht, dazu verwendet, nach und nach die unbewußten Gehalte ins Bewußtsein zu heben. Ebenso wie für Jung das Wesen der Individuation im fortwährenden Wechsel zwischen den entgegengesetzten Polen der Psyche und in der Schaffung eines stabilen Gleichgewichts von disjunkten Seelenkräf­ten besteht, wird der Sinn in Hesses Romanen nie nur mit einer Hälfte der Romanwirklichkeit bzw. nur mit einem Sujetstrang verbunden, sondern entsteht am Schnittpunkt von zwei antithetischen Entwick­lungslinien.

 

3. Entgegengesetzte Pole beim Protagonisten

In Hesses Geschichten handelt es sich im Grunde genommen um partielle Ausschnitte aus einem unendlichen kontinuierlichen Prozeß, in dem die entgegengesetzten Pole einander weder verneinen noch ausschließen, sondern zueinander in einem komplementären Verhältnis stehen. Die Individuation soll nun ein Gleichgewicht zwischen den Gegensätzen und die Ganzheit der Person bilden. Hallers Problem ist in jenem unversöhnlichen Verhältnis von Ich und Schatten zu sehen, das der Traktat mit den  Symbolen Mensch und Wolf beschreibt und das auf eine ungewöhnlich eindrückliche Weise seine Disposition zur Neurose veranschaulicht. Der Wolf richtet sich dabei gegen alle Bürgerlichkeit, während der Mensch zugleich in einem Vakuum von Vereinsamung erstickt. Der Wolf betrachtet den Selbstmord als einzigen Ausweg, als Auflösung oder als Weg zu Gott oder ins All, während der Mensch dies zugleich als Sünde und als illegitim betrachtet. Die innere Spaltung des Protagonisten erscheint so total und um­faßt praktisch alle Lebensbereiche.

Die Teilung Hallers, die dem Leser durch die Teilung in Wolf und Mensch offenbart wird, kann in der Jung´schen Analyse in eine Teilung des Selbst übersetzt werden und zwar in einen bewußten und unbewußten Teil. Das Bewußte Ich ist aus dieser Perspektive also nur ein Teil des ganzen. Da der Teil aber nie das Ganze begreifen kann, egal wie fortgeschritten die Individualisierung ist, wird auch die völlige Verwirklichung der Ganzheit der Person ein unerreichbares Ideal bleiben und das Selbst, welches diese Ganzheit aus­drückt, ein transzendentes Postulat, das sich weder wissenschaftlich beweisen noch empirisch darstellen läßt. Im Traktat wird diese Teilung, außerhalb von Hallers Sicht markant inszeniert und sodann in eine allgemeine Anthropologie übersetzt, die diesen Befund in eine systematische psychologische Ty­penlehre  zu integrieren versucht und Hesses Bild vom Menschen damit in gültiger Form zusammenfaßt. Während der Heiliger und der Wüstling zwei entgegengesetzte Pole der Persönlichkeit markieren, die zudem die Hingabe des Ich an das Selbst entweder im Erlösungsbegriff oder im Triebhaften bedeuten, sieht Haller im Bürger eine zwischen diesen Polen vermittelnde Position. 
Haller selber wird dem Außenseiter zugeordnet. Wie  bereits  der  Name sagt,  steht  dieser zwischen allen Fronten: Weder zur naiven Selbstzufriedenheit des Bürgers noch zur Opferung des  Ich  nach  dem  Vorbild  der Unsterblichen  oder  des Wüstlings bereit und fähig, steht der Outsider  zwischen allen  Möglichkeiten  einer  seelischen Befriedung. Aus der Intermediärstellung des Outsiders zwischen Bürger und Heiligem bzw. Bürger und Wüstling ergibt sich nach dem Traktat seine innere Zerrissenheit zwischen Ich und Selbst und damit sein Leiden. Was bei Jung jedoch als natürliches und notwendiges Spannungsverhältnis des Outsiders, ja als wünschenswert und unvermeidlich beschriebener Endzustand des Individuationsprozesses beschrieben wird, stellt sich in der imma­nenten Anthropologie des Tractats aber als eine tragische Unversöhnlichkeit von Ich und Selbst samt der entsprechenden psychologischen Typen dar.

3.1 Lösungsvisionen für den inneren Zwiespalt

Zunächst wird die bisherige dualistisch-neurotische Selbstinterpretation revidiert, indem darauf insistiert wird, daß Hallers Seele aus mehr als zwei Teilen, nämlich aus unzähligen Aspekten besteht. Unverkennbar ist hierin Jungs Lehre vom kollektiven Unbewußten enthalten, wonach jeder ein­zelne Mensch die seelischen Dispositionen der gesamten Menschheit in sich trägt. Damit soll also die Lehre von der Vielschichtigkeit des Menschen Haller die Neurose überwinden lassen. Haller soll seine empirische innere Vielheit annehmen. Noch einmal wird die rückhalt­lose Hingabe an den Ganzheitsaspekt des Selbst als Weg zur Erlösung eingefordert. Erst  damit gelangt Haller zum Selbst (körperlich-psychische Einheit) und zum unsterblichen, ausgedrückt durch die Figuren des Jesus, Mozart, Goethe oder durch Pablo, die nach  der Psychologie Jungs als Symbole des Selbst zu begreifen sind. Sie verkörpern jenes Paradoxon der Einheit in der Viel­heit, das der Tractat zum Ziel des Individuationsprozes­ses erklärt.  Dieses Ideal ist die erste Lösungsperspek­tive  für  die seelische  Problematik  des Außenseiters Harry Haller.
Der zweite Ausweg ist der Humor, der als Alternativer, als leichterer und bequemerer Weg zur inneren Befreiung begriffen wird – nämlich für die Realisierung des Selbst. Der Tractat begreift den Humor als eine nachgeordnete,  bürgerlich-mediokre Alternative zum Ideal der Verselbstung. Das Primäre, eigentliche Ziel bleibt die Realisierung des Selbst nach dem Vorbild Jesu (und  Buddhas). Der Humor wird hier als Möglichkeit der Versöhnung der objektiv-welthaften und der sujektiv-innerseelischen Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit ins Auge gefaßt, womit sich Hesse im Steppenwolf der romantischen Ironie als Vehikel zur Lösung der Individuationsproblematik annähert.

4. Figuren im Steppenwolf

4.1 Hermine

Gleich beim ersten Zusammentreffen im Wirtshaus wird für den lebensmüden Haller der mütterliche Aspekt Hermines weitaus wichtiger als jede Erotik, was in der Theorie Jungs als Ausdruck seines hier noch vollkommen unbewußten Verlangens nach Wiedergeburt im Zeichen der Ganzheit verstanden werden kann. Hermine verkörpert hier die Vielfalt des archetypischen männlichen Bildes von der Frau und zum anderen ist sie ein Symbol der Vielfalt jener inneren Frau, die Haller in sich hat und die er zu einer Einheit bringen muß, um wieder zu überleben. Auf der anderen Seite verkörpert sie aber auch bisexuellen Attribute, was durch ihre häufig knabenhaftes Erscheinungsbild symbolisiert wird. In der Jungschen Psycho­logie erhält der verselbstete oder sich verselbstende Mensch hat sowohl männliche als auch weibliche Züge, ist also psychologisch bisexuell veranlagte. Das aber be­deutet: Die Transsexualität Hermines ist ein Symbol für jene ursprüngliche mannweibliche Ganzheit des  Selbst, die Haller verloren hat und die er nun durch die Assimi­lation seiner Anima, die durch Hermine verkörpert wird, wiedergewinnen soll. Sie konfrontiert ihn also mit jenen Bereichen des Lebens und seiner Psyche, denen er bislang  aus dem Weg ging und die er zur Realisierung seiner Ganzheit dringend braucht. Auf der anderen Seite ist auch Hermine eine gebrochene Existenz. Wenn Hal­ler bei ihr das Leben sucht,  so sucht sie bei ihm den Geist: Haller ist ihre Animus-Projektion. Wenn Haller an der Leblosigkeit des Geistes zerbricht,  so verzweifelt  sie an der Geistlosigkeit des Lebens. Eine lebensfähige Syn­these gelingt weder ihr noch ihm. Hermines Bedeutung für Haller beschränkt sich dergestalt auf  die  klassische  Anima-Funktion und der Einführung ins Leben, sie kann ihm aber keine Erotik und auch keinen Ausgleich seiner komplexen Aspekte seines Selbst bieten.

 

4.2 Maria

Hallers Individuationsprozeß kann jedoch nicht abgeschlossen werden, weil eine Integration von Eros und Logos durch seine nicht ausgelebt Geschlechtlichkeit verhindert wird. Marias Bedeutung für Haller erschöpft sich jedoch keineswegs  im Sexuellen, sondern sie umfaßt einen weitaus größere Bereiche seiner Psyche. Der durch sie aktivierte Eros Hallers verharrt keineswegs in sich selbst, sondern greift über seine Sphäre hinaus und beginnt, auch die festgefahrenen Strukturen seines Logos umzuwandeln und führt damit zu einer Erotisierung des Geistes.

 

4.3 Pablo

Bei Jung folgt nach der Auseinandersetzung mit der Anima die Realisierung des Selbst als letzte Aufgabe des Individuationsprozesses. Dies findet im Roman sein Korrelat in der Auseinandersetzung Hallers mit Pablo, der in seiner heiteren und freundlichen Art als Symbol des Selbst verstanden werden kann. In Analogie zu Jungs Theorie, bei dem es in der Regel die Anima ist, die den Zugang zum Selbst als tiefstem Urbild des kollektiven Unbewußten vermit­telt, ist auch im Steppenwolf Hermine diejenige, die Hallers Beziehung zu Pablo stiftet. Anstatt jedoch das  Positive,  Mah­nende und Herausfordernde an Pablos Wesen zu bemerken, sieht er nur das vermeintlich Unzulänglichkeit und verbaut sich damit die Möglichkeit zu seelischem Wachstum. Indem er Pablo ablehnt, lehnt er auch die Konfrontation mit seinem eigenen Selbst ab. Zugleich kann die spätere Freundschaft psychologisch gesprochen als eine Öffnung Hallers gegenüber dem projizierten Symbol seines Selbst angesehen werden, was die notwendige Voraussetzung für sein Wandlungserlebnis darstellt.

 

4.4 Die Unsterblichen

Als Sendboten aus der Welt der Unsterblichen erscheinen im „Steppenwolf“ Goethe und Mozart. In diesem Spannungsverhältnis zwischen der neurotischen Natur Hallers und dem ganzheitlich-harmonischen Wesen der beiden Klassiker bewegt sich auf die fiktive Auseinandersetzung, die im Roman beschrieben wird. So erhält die erste Begegnung mit Goethe eine kompensatorische Funktion des Unbewußten, nachdem sein Ausfall beim Professor sowohl von  seiner Selbstwahrnehmung als  auch von Hermine  als uneigentliche Reaktion entlarvt wurde. Durch den Traum, wird Haller verdeutlicht: Es ist die Rolle, die spezifische Problematik und Psychologie Hallers, die ihn spezifische Vorurteile über Goethe haben läßt. So ist es Goethe schließlich auch, der, als Kind zu Haller sprechend, erstmals eine Zusammenführung der bislang – im Tractat wie  in Hallers  Bewußtsein – streng getrennten Leitmotive des Humors und der Unsterb­lichkeit vorgenimmt. Goethe demonstriert  Haller,  daß Humor keine ,,Vernunftehe mit dem Bürgerlichen” bedeuten muß, sondern  mit dem Ideal  der Unsterblichkeit – der Realisierung des Selbst – durchaus vereinbar ist; mehr noch: Daß gerade Humor das eigentliche Kennzeichen und Kriterium der  Unsterblichen ist. Erstmals keimt in ihm der Gedanke auf, daß der Durchbruch zum Selbst die Akzeptanz der gegebenen Welt und Ich-Persönlichkeit nicht aus-, sondern einschließt. Ebenso wie Goethe, so drängt auch Mozart im magischen Theater darauf, daß Haller, statt sich nach der vollständigen Überwindung des Ich zu sehnen, endlich sein Ich und mit ihm die Schuld der Individuation anneh­men und wissen soll, daß diese persönliche Schuld von den hö­heren Mächten nicht sehr hoch veranschlagt wird. Noch einmal wird ihm vorgeführt, daß zur Lösung seiner  Problematik die Aneignung einer  humoristischen Lebenshaltung weitaus notwendiger ist als die vollstän­dige Überwindung des Ich. Durch diese Aufforderung zu einem Friedensschluß mit der Insuffizienz der Außenwelt wird Mozart zu einem Prophe­ten des Humors in doppeltem Sinn: Sein Hinweis auf die evangelische Erbsünden- und Gnadenlehre bezieht sich auf die psychologische Notwendigkeit des ,,inneren Humors” – d.h. des Sich-Abfindens mit der ewigem Insuffizienz des empirischen Ich – während seine Lektion über das Händelkonzert die Unverzichtbarkeit eines humoristischen Ver­hältnisses zur  Welt  betont.

 

5. Romanschluß

Der Schluß des Romans ist in 2 Teile geteilt: Zum einen der Nachtkarneval in den Sälen, die noch einen Wirklichkeitswert beanspruchen und zum anderen Pablos Zimmer, in der die Reise durch die Bilderwelt seiner Seele stattfindet und einen irrealen Charakter hat. Der Maskenball stellt demzufolge eine Grenze in Hallers leben dar. Dem Leser wird vor Augen geführt, daß an diesem Tag vor dem Maskenball die Grenze zum früheren Leben Hallers verläuft und daß der Protagonist vor den Ereignissen steht, die seinem empirisches Ich das Leben kosten könnte. Letzteres ist notwendiger Bestandteil um die komplexen tiefenpsychologischen Erfahrungen im ,,Magischen Theater” machen zu können. Im Maskenball ist die Ver­nichtung und Entthronung mit der Wiedergeburt und Erneuerung verbunden, der Tod des Alten mit der Geburt des Neuen. Analog zur vielfalt der menschlichen Seele werden auch beim Maskenball viele verschiedene Räum dargestellt, wobei 2 eine besondere Bedeutung erlagen: der Hauptsaal, Symbol des kollektives Unbewußten, und die Hölle als Symbol des Schatten. Im Hauptsaal wird Haller vom allumfassenden Strom hemmungsloser Fröhlichkeit mitgeris­sen und fügt sich damit ein in den kollektiven Leib der Gemeinschaft. Die Szene erhält damit eine karnevallistische Verschmelzung mit dem Kollektiven. Nun aber ist er bereit zu einer künftigen Wand­lung, denn das bewußte Ich ist kein Mittelpunkt seiner Persönlichkeit mehr und kann folglich den Weg zum ,,inneren Menschen”, zum Selbst, nicht mehr versperren.

Die Szenerie mündet in den ‚Hochzeitstanz‘ mit Hermine, der in den unteren Räumen (der Hölle) stattfindet. Der Tanz mit Hermine bedeutet „eine symbolische  Öffnung gegenüber der Tiefe des kollektiven Unbewußten indem er jetzt in einem ekstatischen Rausch die langersehnte Aufhebung des Ich und des ,,principium individuationis“ erlebt. In der Hochzeitsnacht gewinnt Hermine eine androgyne Wesensart und es wird immer offensichtlicher, daß Hermine den weiblichen Psychenanteil Hallers verkör­pert und ihm als sein Seelenbild, als seine Anima entgegentritt. Damit entspricht der Tanz, Jung zufolge, der Begegnung mit dem eigenen Seelenbild, der unerläßlich für den Individuationsprozeß ist. Die  fortdauernde Problematik besteht nun aber darin, daß Hallers Aufmerksamkeitimmer  noch  vollständig  an  Hermine  als Protektion des  Archetypus  gefesselt  ist,  anstatt sich auf die Realisierung des inneren Urbilds zu richten. Er erwartet Leben und Erfüllung primär immer noch von ihr. Der einzige  Weg  zur Weiterentwicklung für ihn ist die Entdeckung Hermines in sich selbst.

Diese letzte Aufgabe soll im Magischen Theater vollführt werden, dessen Aufgabe zum einen darin besteht, diese archetypischen Bilder zum inneren Erlebnis werden zu  lassen, zum anderen aber auch in der Überwindung des Ich und der Erreichung des Humors besteht. Psychologisch  gesehen bedeutet  es  die letzte  Chance  für Haller, seine Neurose zu überwinden und eine neue Ganzheit zu realisieren. Das  eigentliche  Initiationsritual, das Pablo vornimmt, ist eine  genaue Reprise der bereits  in der Exposition des  Tractats aufgezeigten Lösungsperspektiven für Hal­lers Problematik – nun  allerdings unmittelbar  angewandt auf Hallers  Leben. Pablo fordert von Haller seine Einsicht in die Beschränktheit dieser dualistisch-neuro­tischen Selbstinterpretation (symbolisiert durch die Räume, durch die sich Haller bewegt) und ihre Überwindung durch ein herzhaftes  Lachen – also durch  Humor. Das Ziel ist der Unsterbliche zu werden, wo alle Gegensätze aufgehoben sind. Im Magischen Theater wird das zur Wirklichkeit, nämlich die Vereinigung aller Gegensätze in sich. Erst hier geht ihm auf, daß Mozart und Pablo, Geist und Sinnlichkeit doch eins seien. Und wie Mozart und Pablo auf einer hö­heren Stufe eins sind, so sind im Selbst auch Wolf und Mensch eins. Der blinde Wille zur Eroberung Hermines erzeugt jedoch den Rückfall ins und die Reanimierung des Ich und damit den erneuten Verlust des Selbst, was kurz darauf mit einer kompensatorischen Figur seines Unbewußten, nämlich in der Gestalt Mozarts, angemahnt wird. Noch einmal wird ihm vorgeführt, daß zur Lösung seiner  Problematik die Aneignung einer humoristischen Lebenshaltung weitaus notwendiger ist als die vollstän­dige Überwindung des Ich. Der Beischlaf zwischen Hermine und Pablo (Anima und Archetypus des Selbst) ist symbolisiert sodann die Vereinigung von Selbst und Anima. Wenn Haller diese Vereinigung nicht zuläßt und Hermine tötet, so ist dies ein Zeichen seiner tiefverankerten, neurotischen Lebensfeindlich­keit, sowie seiner fortdauernden Weigerung, die gefor­derte Synthese von Humor und spielerischer Verselbstung zu  vollziehen. So verstanden ist ,Der Steppenwolf‘ namentlich das Dokument  einer Katharsis und Heilung. Zeigen die Dialoge von Haller und Hermine, daß es ihm gelungen ist, eine Vereinigung mit dem Andersgeschlechtlichen herzustellen, so stellt die Ermordung am Ende wiederum das Scheitern dar. Die Ganzheit der Psyche, wie erfolgreich die Individuation auch vor sich gehen mag, wird stets relativ bleiben, und so muß die Arbeit an seiner Persönlichkeit dem Menschen zur unendlichen Lebensaufgabe wer­den. Auch Hesse schildert in seinen Werken fast nie die Verwirklichung des Ideals, sondern er weist lediglich in die Richtung und auf das Ziel. Der Roman be­schreibt, wie ein neurotisch schwer gestörter Mann, der von sich und der Welt Unmögliches erwartet, durch Selbsterkenntnis und die Auseinandersetzung mit bestimm­ten archetypischen Menschentypen zur Vision einer neuen Ganzheit und Lebenstüchtigkeit findet.

Literaturhinweis

– Baumann, Günter: Hermann Hesses Erzählungen im Lichte der Psychologie C.G. Jungs. Freiburg, Berlin 1989.

– Karalaschwili, Reso: Hermann Hesses Romanwelt. Köln, Wien 1986

– Khera, Astrid: Hermann Hesses Romane der Krisenzeit in der Sicht seiner Kritiker. Bonn 1978.

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