Die Konstruktion des Geschlechts am Beispiel der transsexuellen

Verfasst von: Alexander Miró (Hamburg, 1999)

 

Inhalt

1. Die Natürlichkeit oder Selbstverständlichkeit der dichotomen Gesellschaft

2. Das mit dem Geschlecht verbundenen ‚Rechte‘ und Verpflichtungen

3. Aktive Darstellung des Geschlechts und Geschlechtsmerkmale

4. Geschlechtskonstruktion

Literaturhinweise

 

 

 

1. Die Natürlichkeit oder Selbstverständlichkeit der dichotomen Gesellschaft

Wer sich als normales Mitglied dieser Gesellschaft sieht, für den hat seine Umgebung eine dichotome Struktur. Sie ist besetzt und ausgefüllt von Männern und Frauen. Die Veränderung dieser Strukturen innerhalb der eigenen Umgebung kann sich nur durch Tod, Geburt und Abwanderung vollziehen. Dieser Zustand der individuellen Umgebung wirkt für ‚normale‘ wie ein Naturgesetz, das nicht zu hinterfragen ist und aufgrunddessen wir auch ‚natürlich‘ männlich oder weiblich sind (ein Umstand, auf das sich die Gesellschaft gründet). Es ist jedoch bereits hier zu vermerken, und diese These wird mich weiterhin begleiten, daß der Rekurs auf den ‚natürlichen‘ Unterschied zum einen immer einen Rekurs auf eine kulturell konstituierte Zeichenrealität beinhaltet und zum anderen auf ein bestimmtes biologisches Wissen verweist, bei dem der  Körper sich uns als kulturell spezifische Konstruktion darstellt, bei dem dieser in spezifischen anatomischen und physiologischen Wissenssystemen existiert. Dies weist bereits darauf hin, daß es keine ‘natürliche’, von der Dimension des Sozialen freie Wahrnehmung des Körpers gibt.

Die dichotome Struktur der umgebenden Gesellschaft gewinnt für uns einen Charakter von moralischer Richtigkeit und ist damit ein konstitutiver Teil ihrer Natürlichkeit und Selbstverständlichkeit. Es ist aber darauf hinzuweisen, daß diese Selbstverständlichkeit der wahrgenommenen Differenz keine Allgemeingültigkeit besitzt. Dichotomisierungsregeln akzentuieren den Unterschied der Geschlechter. Die Befolgung dieser Regeln bringt eine wohlgestaltete Differenz zwischen Männern und Frauen hervor. Was als eine solche erlebt wird, kann jedoch von Person zu Person und von Situation zu Situation unterschiedlich sein; es wird aber als eine Evidenz erlebt, daß die Differenz moralisch und ästhetisch angemessen existiert – d.h. es wird als klar und selbstverständlich eingeschätzt. Die Fixpunkte dieser Dichotomisierung sind die in einer Gesellschaft gängigen Vorstellungen darüber, wie Männer oder Frauen zu sein oder wie sie sich zu verhalten haben usw. Es kann also davon ausgegangen werden, daß das Geschlecht von Transsexuellen nicht von bestimmten, allgemeinen Dichotomisierungsregeln abhängt, sondern diese können wahrscheinlich von Person zu Person, aber auch von der jeweiligen Gesprächssituation und der entsprechenden affektiven Beteiligung der Interaktionspartner verschieden sein.

Die Entscheidung zur Anerkennung der natürlich dichotomen Gesellschaft ist weniger durch biologische oder psychologische Fakten begründet als vielmehr mit der Einwilligung und der Aktzeptanz der Gesellschaftsordnung gegeben, in die man sich selber einfügt und in der man lebt. Aufgrund dieses moralischen Zusammenhangs läßt sich auch die Einstellung der von Garfinkel dargestellten Patientin verstehen (er untersucht das ‚Phänomen‘ der Transsexualität aus der Sicht von Agnes, einer Mann-zu-Frau Transsexuellen). Agnes erkannte in der Meisterung ihres Bemühens, nämlich das andere Geschlecht ‚natürlich‘ und normal zu sein, einen moralischen Wert – sie wollte ihren eigenen moralischen Wert damit aufrechterhalten. Es stellte sich für sie recht schwer dar, den anderen, den ‚normalen’ ihren Zustand der Zweigeschlechtlichkeit zu erklären, da diese Personen das andere Geschlecht als bekannt und als selbstverständlich annahmen. Agnes unterschied sich insofern von den anderen, daß ‚Normale‘ die Selbstverständlichkeit und die daraus sich ableitenden Handlungen und Verhaltensweisen als geschlechtliches Wesen ohne einen weiteren Gedanken vollzogen, während bei ihr ständig Unsicherheiten vorhanden waren. Sie mußte das ‚natürliche‘ und ‚selbstverständliche‘ Mädchen durch verschiedene Strategien retten. Wie Agnes, so unter unterscheiden sich auch andere Transsexuelle dadurch von den anderen Teilnehmern der Gesellschaft, weil sie wissen, wie sehr sie damit beschäftigt sind, ihr Geschlecht darzustellen, während die Nichttranssexuellen das gleiche zumeist vollbringen, ohne weiter darüber nachzudenken. Transsexuelle sind quasi aus diesem unbewußten Zustand erwacht und verfolgen nun sehr bewußt das Ziel, erst als das andere Geschlecht wieder unbewußt ihr Geschlecht darzustellen.

Das ‚natürliche Mädchen‘ ist bei Agnes als eine von vielen institutionalisierten zwängen zu verstehen. ‚Selbstverständlich‘ ist die Formel, mit der ein geschehenes Entgegenkommen, mit der Mühe und Unsicherheiten, das Stattfinden einer Entscheidung und vor allem die Zeit des Konstruktionsprozesses negiert werden. Das Teilnehmer ihr Geschlecht ‘selbstverständlich’ haben, heißt eben: es mit der zeitlosen Ewigkeit des ‘Natürlichen’ und der zeitlosen Kürze des ‘Offensichtlichen’ zu haben. Geschlechtsdarstellungen werden zudem von den Teilnehmern ‘ideologisch’ naturalisiert, so daß die ‘erzeugten’ Geschlechtunterschiede mit natürlichen ‘Geschlechtsunterschieden’ begründet werden können. Es findet also durch die Teilnehmer eine automatische Negierung der Konstruktion des Geschlechts durch den Hinweis auf die natürlichen Geschlechtsunterschiede statt.

Die transsexuellen Gesellschaftsmitglieder stimmen nun ihrerseits der dichotomen Gesellschaftsordnung zu, wenn es auch für sie Personen gibt, die das Geschlecht wechseln. Ihr Transfer war also von der Vorstellung der kulturell festgeschriebenen dichotomen Konstitution begleitet, in die sie sich selber einschlossen. Auch Agnes sieht das so, als einen objektiven, institutionalisierten Fakt. Aus diesem Grunde bestand sie nicht nur darauf, sondern es war ihr auch so bedeutend, als normales, als natürliches Mädchen behandelt zu werden. Aus diesem Umstand wird auch die Einschätzung der Umwandlung aus einer sehr spezifischen Blickrichtung wahrgenommen, nämlich als eine Korrektur einer schon immer vorhandenen Situation. Ein Wechsel des Systems (außerhalb der dichotomen Struktur von Mann und Frau) war für sie nicht möglich, da es auch ein Risiko bedeutete. Stattdessen hat das System einen Fehler begangen, der nun durch einen Transfer korrigiert wird. Dies müssen die Transsexuellen nicht nur sich selber, sondern auch (und vor allem) ihrer Umgebung verdeutlichen. Die Durchsetzung des Rechts (auf das ihnen eigene Geschlecht) vollzieht sich aber nicht so, daß die Transsexuellen ihr Recht einfach behaupten, sondern sie bekommen den anderen dahin, daß er sein Unrecht einsieht. Es ist ein Fehler passiert und jetzt muß geklärt werden, wer schuld hat. Der Transfer erscheint aus dieser Sicht nicht als Wechsel von einem Geschlecht zum anderen oder als Ausbruch aus der dichotomen Geschlechterordnung, sondern als die Korrektur eines Fehlers. Aus dieser Sicht geht es um die Berechtigung der Anwesenheit des richtigen Geschlechtsorgans. In dem Falle darf es dann auch durch eine Operation, also künstlich hervorgebracht werden, wenn die Abwesenheit zuvor ein Fehler war – das Organ ist das richtige Ding. Die medizinische Arbeit betrachtete Agnes daher als Rechtfertigung für ihr gutes Anrecht für ihre natürliche Weilblichkeit.

2. Das mit dem Geschlecht verbundenen ‚Rechte‘ und Verpflichtungen

Der oben angesprochene Punkt deutet bereits an, daß mit der Vorstellung der Natürlichkeit des Geschlechts auch die Korrektur eines entstandenen Fehlers erklärt wird. Es wird als das individuelle Recht eines geschlechtlichen Wesens angesehen auch das richtige Geschlechtsorgan zu besitzen. In Agnes Fall ist dies ähnlich. Sie hat sich zu einer Operation entschlossen, um auf das Recht zu beharren, in dem Geschlecht zu leben und das Geschlecht (-sorgan) zu besitzen, daß sie fühlte.

Die Geschlechtsorgane geben einer Person nicht nur das Geschlecht, sondern sie vermitteln dieser Person auch das Recht, einen bestimmten geschlechtlichen Status zu beanspruchen. Zugleich bedeuten sie für die Person aber auch die Pflicht, sich so zu verhalten. Eine Operation sichert Agnes daher in jedem Fall, so ihre Einschätzung, sich dadurch die einer Frau zugeschriebenen Rechte und Verpflichtungen, sowie die Ausführung und die Mobilisierung von passenden Gefühlen und Vorgaben zu sichern. Darüber hinaus lernte sie dieses Recht auch im Umgang mit anderen kennen. Sie sah, wie diese für jeden anderen den Beweis antraten, daß sie ein recht hatten als natürlicher Mann oder Frau aufzutauchen und eignete sich dieses Verhalten an – sie empfand es ebenso als ihr gutes ‚Recht‘ als Frau anerkannt zu werden, da sie diese Weiblichkeit als natürlich und selbstverständlich ansah. Das ‚Recht‘ bedeutet hier, den Anspruch auf einen bestimmten Geschlechtstitel und die ihm entsprechenden respektbekundenden Behandlungsweisen. Ein bestimmter Körper rechtfertigt also, einen Geschlechtstitel zu tragen, der berechtigt, einen bestimmten Körper als eigenen und richtigen zu beanspruchen und der verpflichtet, bestimmte körperliche Funktionen zu erfüllen.

Geschlechtszuständigkeit heißt jedoch nicht nur, wie die bisherigen Ausführungen andeuten ein Recht zu beanspruchen, sondern sie bedeuten auch, eine bestimmte Verantwortung zu tragen – die Inhaber eines Geschlechts haben eine Rechenschaftspflicht in bezug auf ihre Körperbeschaffenheit. Als wahrgenommene Beziehung zwischen  Darsteller und Darstellung umfaßt eine Geschlechtszugehörigkeit also Kompetenzen und eine normative Dimension, nämlich in Form von Ansprüchen anderer und Verantwortung gegenüber diesen Ansprüchen. Man muß der Historizität kultureller Darstellungsressourcen Rechnung tragen und trägt damit Verantwortung.

Dies jedoch setzt eine Stetigkeit der Darstellung voraus. Diese Stetigkeit wird mit der Prozedur der Umwandlung auf eindrückliche Art zugesichert. Während der ein bis zweijährigen Dauer der Begutachtung und den späteren Umwandlungsprozeduren (Hormonbehandlung, Operation usw.) wird eine gemeinsame Geschichte geschaffen, in der die gesamte erkannte Lebensgeschichte und die Beziehung zwischen dieser und dem eigenen ich immer wieder auf ihre Konsistenz hin befragt und in ihrer Haltbarkeit fixiert werden kann. Da es einen wesentlichen Realisierungseffekt darstellt, wenn jemand als ein bestimmtes Geschlecht eine Zukunft verspricht, in der er sich einer Reihe juridisch-medizinischer Prozeduren aussetzt, bedeutet dies, daß die Glaubhaftigkeit des Entwurfs davon abhängt, ob sich jemand diesen Verfahren unterziehen will. Ein Körperteil legitim besitzen wird dadurch objektiviert, daß man sieht, was Transsexuelle getan haben (nämlichen die Prozedur der Umwandlung durchlaufen zu haben) und was getan werden müßte, um es rückgängig zu machen (nämlich ein erneuter Eingriff).

Transsexuell zu sein heißt also auch den Mut zu haben, ein Versprechen abzugeben und es einzulösen. Mit der von Verständnis der eigenen Lebensgeschichte und der eigenen Situation getragenen Erkenntnis seiner selbst soll nun eine Aussage über Zukunft gemacht werden. Die Beständigkeit der Selbsterkenntnis wird dabei zum Surrogat einer stabilen Zukunft.

Neben der Darstellungs- und Stetigkeitsverpflichtung der Transsexuellen, existiert aber auch eine Pflicht der Umgebung. Diese stehen ebenso unter dem moralischen und kognitiven Zwang der Personenwahrnehmung. Es handelt sich insofern also um reflexive Prozesse, die sich selbst und unter Mithilfe der Objekte ihrer Richtigkeit vergewissern.

Das Sehen von offensichtlicher Geschlechtszugehörigkeit steht also (ähnlich anderen Prozessen sozialer Wahrnehmung) unter Entscheidungs- und Fortschreibungszwängen, sowie unter Entzifferungs- und Anerkennungszwängen. Es wird nicht einfach von Objekten und Sichtverhältnissen strukturiert, sondern auch von Darstellungs- und Erkennungsaktivitäten. Es wird geprägt von Verpflichtungen, die Teilnehmer in einen moralischen Zusammenhang mit der sozialen Wirklichkeit stellen: die Blamage einer Verwechslung grenzt situativ sowohl den Verwechselten aus der Ordnung anerkannt eindeutiger Geschlechter als auch den Sich-Irrenden aus der Gemeinschaft kompetent Wahrnehmender aus.

3. Aktive Darstellung des Geschlechts und Geschlechtsmerkmale

Das Sehen von Genitalien ist ein komplizierter Attributionsprozeß, der durch das Alltagswissen der dichotomen Geschlechtsstruktur gesteuert ist. Als Mitglied dieser Gesellschaft ist man gezwungen in seiner Umgebung Männer und Frauen zu sehen. Zugleich wird man diese Meinung verteidigen, da man gelernt und erfahren hat, daß das Geschlecht nicht zu wechseln ist. Die biologischen Grundlagen schließen hier an das etabliertes Alltagswissen von Zweigeschlechtlichkeit an, die uns in den anatomischen und physiologischen Wissenssystemen begegnen. Geschlechtsattributionen werden also auch darüber gesteuert, was kognitiv überhaupt sichtbar sein kann. In den dargestellten Wissenssystemen werden die unterschiedlichen Eigenschaften der zwei Geschlechter gesucht und gefunden, indem sie Alltagsmethoden der Geschlechtszuschreibung nutzen, um ihren Untersuchungsgegenstand zu identifizieren.

Die geschlechtsspezifische Zuschreibung wird maßgeblich durch die Geschlechtsmerkmale des Interaktionspartners gestaltet, deren Attribution, wie bereits dargestellt, ein früh erworbener und selten hinterfragter Prozeß ist. Dieser Zuschreibungsprozeß ist dadurch gekennzeichnet, daß der Betrachter schon weiß, daß sein Gegenüber ein Mann oder eine Frau ist, bevor die Geschlechtsmerkmale eindeutig identifiziert wurden. Eine Geschlechtszugehörigkeit wird also aus Indizien konstruiert, die nur auf dem Hintergrund einer bereits Identifizierten Geschlechtszugehörigkeit als ‘Indiz’ erscheinen. Zudem sind weniger einzelne Indizien, sondern vielmehr der Zusammenhang verschiedenster Indizien für die geschlechtliche Attribution von Bedeutung. Ebenso ist auch keine feste Hierarchie von Geschlechtsmerkmalen oder ein durchgängiges Primat von körperlichen Zeichen vorhanden. Daraus folgt, daß es auch keine feste Grenze für Geschlechtsattributionen gibt – alles kann sexualisiert werden, weil die Betrachter sich die Geschlechtsmerkmale auswählen. Ein einfach nur objektiv richtiges Erkennen von Geschlechtsmerkmalen ist unter diesen Voraussetzungen nicht gegeben (mehrfach wird jedoch in der Literatur darauf hingewiesen, daß es sehr wohl Grenzen der Zuschreibung von Geschlechtsmerkmalen gibt, z.B. ein Mann wird nicht als Mann eingeschätzt werden, weil er einen Busen hat. Wie ich später weiter ausführen werde, steht die Zuschreibungspraxis der Geschlechtsmerkmale in engem Zusammenhang mit der kulturellen Umgebung. So läßt sich der scheinbare Widerspruch aus diesem Zusammenhang auflösen, daß unterschiedliche Merkmale eventuell auch einer kulturspezifische Geschlechtsattribution unterliegen). Die Pluralität von Geschlechtsbildern liegt zudem nicht nur auf der dichotomen Struktur von Mann und Frau, sondern sie ist auch auf der Ebene von größerer oder weniger großer Signifikanz zu finden, so daß es letztlich auch um das richtiges Maß der Verwendung von Indizien geht.

Das Hauptgeschlechtsmerkmal ist durch den Körper einer Person repräsentiert. Der sichtbare Körper, der das Geschlecht symbolisiert, wird so gesehen, daß der Körper als Bedeutungsträger und das Geschlecht als Bedeutung nicht voneinander unterschieden werden. Der Körper ist ein Ding und zugleich ein Zeichen; da die Zeichenhaftigkeit unmittelbar mit seiner Konstitution als Ding zusammenfällt, erhält die Zeichenhaftigkeit die gleiche Objektivität, die dem Körper als Ding zukommt. Dies gilt nicht nur innerhalb einer bestimmten Kultur, sondern so, daß die kulturelle Zeichenrealität selbst zum Ding wird, d.h. indem der Körper zum Zeichen wird, unterliegt die Zeichenhaftigkeit ihrerseits einer Objektivierung – daraus ergibt sich ein durch die Körpermerkmale objektiviertes Geschlecht.

Ein weiteres wesentliches Moment der körperlichen Erfahrung wird in der von Gesa Lindemann dargestellten‚Verschränkung‘ von Körper und Leib zum Ausdruck gebracht. Der Leib ist von geschlechtlicher Symbolik durchzogen und macht diese umgekehrt für die Person zu einem kaum relativierbaren Bestandteil ihrer Wirklichkeit. Der Körper wirkt als Geschlechtszeichen, indem er in der Verleiblichung zu einer Realität unter der Haut wird, wie eine Sperre, das Geschlecht des Körpers zu verlassen. Auf diese Weise kriecht ihm das Geschlecht sozusagen unter die Haut und bedeutet ihm von innen, welches Geschlecht er ist. In der Verschränkung von Körper und Leib werden die Ebenen des Kognitiven und des Symbolischen mit der zuständlichen Gegebenheit des Leibes zusammengeschlossen. Lindemann geht nun von bestimmten ‚Leibesinseln‘ aus, deren gespürte Gefüge durch die Verschränkung von Körper und Leib gemäß der Ordnung des objektivierten Geschlechts strukturiert werden. In der leiblichen Interaktion sieht Lindemann die Individuen an das Hier-Jetzt gebunden und damit den sozialen Kontrollen unmittelbar ausgesetzt. Das sozial verfaßte objektivierte Geschlecht bewirkt in der Verschränkung mit dem Leib wie von selbst, daß eine Person sich als das Geschlecht realisiert, das der Körper bedeutet.

4. Geschlechtskonstruktion

Geschlechtsattributionen erzeugen ihr eigenes Fundament: in einer zeitlichen Ebene wird der Körper, als der ihr vorausliegender Grund angesehen und in einer räumlichen wird das Geschlecht eines Individuums am Körper lokalisiert, wo eine soziale Praxis einen Körper in einer Geschlechtszugehörigkeit lokalisierte. Nach einer kurzen Wahrnehmungsarbeit, macht sich mit der Erkennung eines Passanten als Mann oder Frau der Konstruktionsprozeß selbst unkenntlich. Darstellungen der Geschlechtszugehörigkeit  müssen daher als ihre Konstruktivität verbergende Prozesse aufgefaßt werden, deren Mißlingen als Geschmacklosigkeit oder als Täuschung wahrgenommen und negativ beurteilt werden.

Die Geschlechtszugehörigkeit ist weder zu verbergen, noch zu übersehen. Diese Erfahrung gibt es bereits in der Geburtssituation. Wenn Teilnehmer ein neues Gesellschaftsmitglied kennenlernen, versuchen sie, Organe als Zeichen seiner Geschlechtszugehörigkeit zu lesen. Bei der Geburt beginnt dies etwa mit dem Satz ‚Es ist ein Junge/Mädchen‘. Die Unterscheidung führt nicht automatisch zur Klassifikation von Personen, sondern nur aufgrund einer entsprechenden geburtlichen Zuschreibungspraxis und einer präkonstruierten Zeichenhaftigkeit als Geschlechtsinsignien. Diese geburtliche Feststellung ist bereits eine konstruktive Feststellung, da seine Bedeutung durch diese sprachliche Festschreibung wiederum erneuert wird. Was für die sprachliche Feststellung gilt, gilt ebenso für die visuelle. Menschen ‘haben’ ihr Geschlecht offensichtlich und alle gehören den beiden Geschlechtern offensichtlich an. Der Körper wird von der Grundannahme der Zweigeschlechtlichkeit aus gesehen, d. h., es gibt ein habitualisiertes Sehen, das Wahrnehmungen erzeugt, die am Körper die Geltung ihrer Voraussetzungen reproduzieren.

Wie bereits mehrfach angedeutet, sind die Geschlechtsinsignien aufs engste mit der Kulturellen Gegebenheit einer Gesellschaft verbunden – die Genitalien sind ein kulturelles Ereignis, wie Garfinkel sagt. Als Genitalien, die Personen unterstellt werden, die überzeugend in einem Geschlecht wirken, sind sie das Resultat von Darstellungsleistungen, und als Genitalien, deren Besitz zu bestimmten Geschlechtsdarstellungen verpflichtet, sind sie Bezugspunkte von Verhaltensnormierungen. Die kulturelle Wirklichkeit zweier Geschlechter kann also, in der Umkehrung, nicht aus einem Unterschied der Genitalien folgen, da sie Geschlechtszeichen nur im bereits bestehenden Kontext dieser Wirklichkeit sind. Insofern hat man die Auffassung einer moralischen Richtigkeit der dichotomen Gesellschaft, wenn man sich entsprechend dieser kulturellen Festschreibungen verhält. Der soziale Ort zwischen den Geschlechtern, indem sich aus dieser Perspektive die Transsexuellen befinden, liegt jedoch außerhalb der vertrauenswürdigen Teilnehmer einer Gesellschaft, da er keine Stabilisierung kultureller Wirklichkeit garantiert. Der den Transsexuellen gewachsene Körper beinhaltet für diese daher als Darstellungsgegenstand wesentliche Nachteile für die überzeugende Verkörperung der von ihnen angestrebten Geschlechtszugehörigkeit. Die kulturell normalen Geschlechtsbilder sind ihnen einfach nicht auf den Leib geschnitten. Transsexuelle arbeiten daher zunächst fast ausschließlich gegen ihren Körper.

Geschlechtlichkeit besteht mithin zu einem großen Teil aus einem immerwährenden Konstruktionsprozeß. Wir alle sind Frauen oder Männer, indem wir den Eindruck erwecken, wir seien es. Die Praktiken der Mitglieder produzieren damit die beobachtbare und erklärbare normale Sexualität von Personen durch aktuelle Aktionen und durch überzeugende Darstellungen in gemeinsamen Gesprächen und Umgangsverhalten. Insbesondere in der Öffentlichkeit, wo Standards sich vermischen, scheinen sich Teilnehmer ständig aneinander zu orientieren und voneinander zu lernen, was geht, also was  ein Mann tut, und was und wie er ist.

Aus den Ausführungen wird deutlich, daß der Konstruktionsprozeß eingebunden ist, in eine stark reflexive Verbindung zwischen Darsteller und Betrachter – der Darsteller ‚hat‘ sein Geschlecht nicht allein. Es ist davon auszugehen, daß eine sexuelle Begegnung eine leiblich-affektive Erfahrung ist, in der die Gleich- oder Verschiedengeschlechtlichkeit der Beteiligten zu einer intensiv erlebten Gegebenheit wird, in die das soziale Umfeld einbezogen ist. Es scheint so, als hätten Transsexuelle eine dunkle Ahnung von dieser Gegebenheit. Daß sie nämlich mit der Veränderung ihres Geschlechts auch ihre Position im System von Gleich- und Verschiedengeschlechtlichkeit wechseln und insofern auch in das leiblich-affektive Befinden ihrer Interaktionspartnerinnen eingreifen. Agnes etwa studierte die anderen, wodurch sie in die Lage versetzt wurde, wie die organisierten Behandlungen von normalen Situationen von Mitgliedern benutzt werden, um sich ganz normal als sexuelles Wesen darzustellen. Zugleich verweist eine um Perfektion bemühte Darstellung jedoch wie eine Unschuldsbeteuerung ständig auf sich selbst, anstatt von sich abzulenken und wird als eine Steuerung von Zuschreibungen und insofern als Darstellung erkennbar. Hierbei wird bereits verständlich, daß das mentale Wissen über Darstellungen für Transsexuelle eine hochproblematische Ausnahmelage ist. Neben der Frage, was Betrachter vom Hintergrund einer Darstellung wissen, ist entscheidend, ob die Darsteller bereits die nötige Selbstvergessenheit haben, um ihre eigene Darstellung, ihre eigene Konstruktion nicht als solche erkennen zu müssen. Das Erlernen von Geschlechtsdarstellungen beinhaltet für Transsexuelle also zugleich auch die Notwendigkeit des Vergessens der Konstruktion.

Eine Person ist hier und jetzt in Beziehung zu anderen eingesetzt und erlebt sich in dieser als real und mit bestimmten Merkmalen ausgestattet. Diese Beziehungsstruktur ist erstens ein wesentliches Medium sozialen Zwanges, insofern sie ein Ausweichen in private Welten, in denen jemand ein anderes Geschlecht sein könnte, verhindert.  Zweitens schließt sich im Rahmen dieser Struktur die Wahrnehmung, indem auch Personen, deren Geschlechtszeichen als uneindeutig aufgefaßt werden könnten, einen eindeutigen wirklichen Platz im System von Gleich- und Verschiedengeschlechtlichkeit erhalten.

Es ist nun zwar nicht als eine soziale Konstruktion zu beschreiben, daß es Wirkliches (Geschlecht) gibt, aber soziale Konstruktionen werden nur insofern gegen Infragestellungen immun, als sie in den leiblichen Beziehungen zu ihrer Umgebung fundiert sind und so mit der Evidenz ihrer Realität die einzelnen in die mit diesen oder jenen Qualitäten und Strukturen ausgestattete Welt zwingen. Wirklichkeit wird auf diese Weise an die leibliche Erfahrung von Individuen gebunden. Ebenso wie das Wissen um den Alltag oder dessen sprachlicher Feststellung ist die Wirklichkeit dieser leiblichen Erfahrung keine soziale Konstruktion, sondern selbst ein Konstituens stabiler sozialer Strukturen.

Wirklichkeit entsteht aber auch hier nur in der Auseinandersetzung mit den Interaktionspartnern der Umwelt. Jemand ist ein Geschlecht, indem er /sie eines für andere ist, und jemand ist ein Geschlecht, indem andere ein Geschlecht für sie bzw. ihn sind.

Für Transsexuelle wird diese Konstruktion, diese Realitätserschließung oder auch die Legitimation des eigenen Geltungsanspruches durch einen ‚Spezialisten‘ vorgenommen: Der oder die Transsexuelle muß zu einem Spezialisten kommen, der erkennt, welche Realität  dem transsexuellen Geltungsanspruch zukommt – der Geltungsanspruch des Geschlechtswechslers wird so durch diesen Spezialisten autorisiert. Das Faktum, das hier zum Laufen gebracht werden soll, ist vor allem die neue Geschlechtszugehörigkeit eines Patienten. Es wird stationenweise erhärtet, bis es zum Faktum im wörtlichen Sinne, also zum Gemachten, geworden ist: transsexuelle Geschlechtszugehörigkeit ist damit eine irreversible Hervorbringung. Im Behandlungsprogramm für Transsexuelle ist die Behandlung selbst ein diagnostisches Instrument, das das Untersuchungsobjekt zu identifizieren versucht. Die Bestimmungsmethoden greifen dabei derart ineinander, daß die Behandlung sich ständig selbst ihrer Richtigkeit vergewissert. Das Behandlungsprogramm konstituiert einen Verifikationszusammenhang, in dem das Geschlecht einer Person solange überprüft wird, bis es in der Weise hervorgebracht wurde, wie es die überprüfende Institution möchte und die Transsexualität wird solange beurteilt, bis sie in einer neuen, der ihr zugewiesenen Geschlechtszugehörigkeit verschwindet. Insofern ist die Transsexualität einer Person stark ein an das Behandlungsprogramm gebundenes Phänomen. Die Analyse der Verwendung des Etiketts ‚transsexuell‘ zeigt, wie seine Bedeutung an die Struktur des Behandlungsprogramms für Transsexuelle gebunden ist.  Mit der typischen Behandlungsmethode sind Funktionen der Etikettierung benannt, die auch für andere Krankheitsbilder in der Medizin gelten. Diagnostizieren ist wesentlich eine behandlungsorganisatorische Leistung und die Bedeutung diagnostischer Etiketten immer auch an die jeweiligen Behandlungsangebote gebunden.

Darüber hinaus inszeniert das Auftreten von Transsexuellen beim Gutachter nicht einfach nur Männlichkeit  und Weiblichkeit, sondern zugleich ihre interaktive Realisierung als Gleich- oder Verschiedengeschlechtlichkeit. Es geht dem Gutachter um eine unmittelbare Erfahrung der Realität des neuen Geschlechts des Transsexuellen im Sinne seiner Neupositionierung im System von Gleich- und Verschiedengeschlechtlichkeit. Hierzu streben die Gutachter (und mit ihnen das System) eine Nachvollziehbarkeit der Selbsterkenntnis des Transsexuellen bezüglich seiner Erkenntnis, das andere Geschlecht zu sein an und dafür sorgen damit dafür, daß diese zu einer interindividuellen Realität wird. Entscheidend ist, daß der Entwurf, das neue Geschlecht zu werden, eine Seinsweise erhält, die ihn grundsätzlich für andere erfahrbar macht. Der Realisierungseffekt, der durch die Mitteilung der Selbsterkenntnis eintritt, ist um so umfassender, wenn diejenigen, denen sie mitgeteilt wird, sie auch verstehen können, wenn der erkannte Sachverhalt also zu einer interindividuellen Wirklichkeit wird. Wenn tatsächlich ein Verstehensprozeß gelingt, stehen die Transsexuellen unter dem ‚Schutz‘ der so geschaffenen Wirklichkeit. Sie können jetzt die Kunstfertigkeit von Chirurginnen in Anspruch nehmen, ohne Gefahr zu laufen, einen neuerlichen Kampf um ihren Lebensentwurf ausfechten zu müssen. Das hierdurch ausgelöste Wegfallen der skeptischen Blicke macht seinerseits das Verhalten des Transsexuellen sicherer, und umgekehrt fördert die Sicherheit ein sozusagen noch „selbstverständlicheres“ Verhalten, das noch weniger Anhaltspunkte für einen skeptischen Blick liefert.

Literaturhinweise

– Garfinkel, Harold: Studies in Ethnomethodology. New Jersey 1967.

– Lindemann, Gesa: Das Paradoxe Geschlecht. Transsexualität im Spannungsfeld von Körper, Leib und Gefühl. Frankfurt/M. 1993.

– Stefan Hirschauer: Die soziale Konstruktion der Transsexualität. Frankfurt/M. 1993.

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