Überblick über die Entwicklungspsychologie

Verfasst von: Alexander Miró (Hamburg, 1999)

 

Inhalt:

1. Gegenstandsbestimmung

2. Abriß der Geschichte der Entwicklungspsychologie

2.1 Wege zu einer erfahrungswissenschaftlichen Entwicklnngspsychologie

2.2 Anfänge einer wissenschaftlichen Entwicklungspsychologie

2.3 Wachstum und Differenzierung der Entwicklungspsychologie im 20. Jahrhundert

3. Zur Klassifikation wissenschaftlicher Schulen

4. Einige alte Themen der Entwicklungspsychologie

4.1 Thema: Entwicklung als Interaktion von Anlage und Umwelt

4.2 Thema: Reifung, Konstruktion oder Sozialisation

4.3 Thema: Kontinuität und Diskontinuität in der Entwicklung

5. Einige aktuelle Themen

5.1 Thema: Entwicklungspsychologie unter dem Aspekt der gesamten Lebensspanne

5.2 Thema: Lebensereignisse und ihre Bewältigung

5.3 Thema: Anthropologische Vorannahmen in Forschung und Theorienbildung

 

 

1. Gegenstandsbestimmung

Entwicklung kann verschieden interpretiert werden: Nennen wir solche Veränderungen Entwicklung, a) die eine Richtung haben, die auf ein höheres Niveau, einen Zustand der Reift ,,stre­ben“, unterscheiden wir b) kurzfristige Veränderungen, wie zeitabhängige Schwankungen, unterscheiden wir c) qualitative und strukturelle Veränderungen von nur Quantitativen, sehen wir Entwicklung als Veränderungen, die d) allgemein oder universell zu beobachten sind oder unterscheiden wir e) reifungsbedingte von erfahrungsbedingten Veränderungen. Als Arbeitsdefinition von Kessen ist Entwicklung als Veränderung zu definieren, die eindeutig an das Lebensalter gebunden ist (also Altersverlauf usw.).

Die wesentliche Aufgabe der Entwicklungspsychologie besteht wohl darin, jene Vorgänge ge­nauer zu analysieren, die die beobachtbaren Veränderungen ermögli­chen, in Gang bringen und für ihre Form und Richtung maßgeblich sind. Die Motive für die Beschäftigung mit Entwicklung bestand in anwendungspraktischen Interessen (pädagogische), darin, die bisherigen theoretische Überzeugungen empirisch zu erhärten sowie in der Interventionsmöglichkeit oder den präventivmaßnahmen gegen Fehlentwicklungen. Lange Zeit sah man die Orientierung unterschiedlicher Lebensperioden als wichtigste Aufgabe der Entwicklungspsychologie, was in die Be­schreibung von Lebensphasen, bekannt als Phasentheorien (Remplein 1957) mündete. Bis heute ist die allgemeine Orientierung über Leistungen, Erwerbungen und Pro­bleme der verschiedenen Altersstufen eine wichtige Aufgabe der Entwick­lungspsychologie geblieben.

Es geht darum eine Prognose der Ausprägung und Veränderung von Personmerkmalen zu leisten. Aber zur Erstellung von Vorhersagen werden Erkenntnisse über die Stabilität oder Veränderbarkeit von Merkmalen, über person- oder personklassenspezifische Entwicklungsverläufe, über frühe An­zeichen oder Vorläufer von Störungen und vör allem Erkenntnisse über Ent­wicklungsbedingungen benötigt, die aus einer langfristigen Beobachtung von Einflußfaktoren (etwa die Spätfolgenvermutung von Freud) stammen. Entscheidend ist auch, inwieweit der erreichte Entwicklungsstand als Bedingung für die weitere Veränderung eine Rolle spielt.

2. Abriß der Geschichte der Entwicklungspsychologie

2.1 Wege zu einer erfahrungswissenschaftlichen Entwicklnngspsychologie

Die Antike hat keine differenzierten Ideen zur menschlichen Entwicklung angeboten. Platon hat ein mehrstufiges Bildungssystem entworfen, wobei wobei jeder Altersabschnitt der Förderung spezifischer Tugenden zu widmen sei. Aristoteles entwirft ein Bild, nachdem lebendige Wesen „in-sich-selbst-das-Ziel-­haben”, also einen inneren Plan des Werdens vollziehen, der die Ausformung des Leibes lenke. Eine Entwick­lungslehre wird jedoch bis in die Neuzeit nicht konkret ausgeführt, erst recht keine erfahrungs­wissenschaftlich überprüfbaren Hypothesen. Comenius war der erste, der erste, der einen kindgemäßen Unterricht forderte. Nachdem John Locke einige empirische Studien über Kinder durchführte, wurde mit Rousseau der Entwicklungsgedanke im 19. Jh. zu einer herrschenden Idee. Rousseau sieht die Entwicklung in vier Stufen sich vollziehen: bis 3. Jahr Ausbildung des Körpers, bis 12. Jahr Ausbildung der Sinnestätigkeit, zwischen 13. und 15. Ausbildung des Verstandes und bis zum 16. die Ausbildung der Gefühle.

Bis zur Mitte dieses Jahrhunderts wurden viele Phasenlehren entworfen, die den menschlichen Lebenslauf in einzelne Perioden mit jeweils spezi­fischen Charakteristika einteilten (Trotzphase usw.), woraus man Überzeugung gewann, daß die Erziehung des Menschen sich lediglich auf Angebote stützen kann und jeder Versuch autoritativ ein Erziehungsziel durchzusetzen, der natürlichen Entfaltung der guten Anla­gen des Menschen schade.

2.2 Anfänge einer wissenschaftlichen Entwicklungspsychologie

Ab mitte des 19. Jh. erhält die Entwicklungspsychologie anstöße zur Erfahrungswissenschaft vor allem durch Spencer und Darwin. Spencer entwickelt unabhängig von Darwin einen Evolutionsgedanken, in dem die Vererbung von erworbenen An­passungsfunktionen (Lamarcks Theorie) und das Ausscheiden von Nichtangepaßtem die Mechanismen darstellen. Er entwirft ein Bild der Welt, in dem überall die Gesetze der Entwicklung sichtbar werden, in der Evolution der Arten, in der Geschichte der Völker wie im psy­chischen Leben. Entwicklung wird teils als Integration zu zusammenhängenden Ganzen, teils als Differenzierung innerhalb der Integra­tion verstanden: Immer verschiedenartigere Teile werden immer ab­hängiger voneinander. Hall, als Begründer der amerikanischen Entwicklungspsychologie, sieht wie auch SternBühler und Häckel in der menschliche Individualentwicklung eine Wiederholung der kulturellen und biologischen Geschichte der Menschheit. In eine ähnliche Richtung weist Werners Ansatz, der auf Strukturähnlichkeiten zwischen kindlichen Formen des Denkens und denen von Naturvölkern hinweist. Es entwickeln sich nun verschiedene Linien vergleichender Wissenschaften: die Vergleichende Tierpsychologie (sie mündet in den Behaviorismus, Skinner, Gewirtz) geht von einer Analogisierung zwischen Tier und Mensch aus, die Vergleichende Verhaltensforschung (Ethologie) untersucht methodisch das Artspezifische Verhalten und die vergleichende Neurologie mit dem Gesetz von Dubois nachdem die Entwicklungs­höhe in der Säugetierreihe dem Verhältnis des Hirngewichts zu Körpergewicht entspricht.

2.3 Wachstum und Differenzierung der Entwicklungspsychologie im 20. Jahrhundert


Im 20. Jh. bildet sich eine Forschungstradition der Entwicklungspsychologie heraus, die im Zeichen der Beobachtung, der Suche nach Gesetzmäßigkeiten und der theoretischen Deutungen steht. In dieser Tradition stehen Freuds Sozialisationstheorie, sowie Stern, Bühler und Piaget. Es entsteht eine deskriptiv-normative Orientierung mit dem Ziel, die Entwicklungsniveaus als Phasen oder Stufen zu beschreiben. Gesell beschreibt Entwicklung als ein erbdeterminierten Wachstums-oder Reifungsprozeß, der sich regelhaft nach einem inneren Plan des Werdens vollzie­he.  In der Tradition der Stadien- und Stufenbeschreibungen bildet Piaget unter Ausblendung der interindi­viduellen Differenzen und unter Vernachlässigung der Entwick­lungsbedingungen eine Hauptströmung der Entwicklungspsychologie. Die Suche nach Gesetzmäßigkeiten führte hier zur Konzeption von Se­quenzregeln für Entwicklungsreihen.

Man wandte sich zunehmend der experimentelle Kinderpsychologie zu, da hier die Entwicklungsunterschiede durch Stichproben innerhalb verschiedener Altersstufen besonders sichtbar wurden und weil man hier die in na­türlichen Lebensformen wirksamen Einflußfaktoren im Experiment nachzustellen (zu ,,simulieren”) glaubte.

Ein anderer Interessensbereich war die Sozialisationsforschung, die psychoanalytische Hypothesen durch Feldforschung auf ihre intra- oder interkulturelle Vergleichbarkeit hin prüfte. Im Vordergrund des Interesses standen hier die familiären Sozialisationsbedingungen.

3. Zur Klassifikation wissenschaftlicher Schulen

In der Endogenistischen Theorie werden weder die Aktivität der Umwelt noch die Aktivität der Person (als handelndes Wesen) als notwendige Bedin­gung für Entwicklung angesehen. Veränderun­gen, die über die historischen Zeiten und über Kulturgrenzen hinweg als unwandelbar gesehen werden, sind demzufolge allein auf Reifungsvorgänge zurückgeführt. Der Umgebung wird so nach Jensens Schwellenhypothese nur dann ein Einfluß zugeschrieben, wenn das Niveau sozusagen unter das artspezi­fische Minimum absinkt. In der Exogenistischen Hypothese wird der Organismus als tabula rasa geboren. Alles was er an Ideen und Erkenntnissen besitzt, erwirbt er durch Erfahrung. Dies wird in der Pawlowschen Konditionierungstheorie zum Ausdruck gebracht, demzufolge auf ein Signal immer ein bestimmtes Ereignis folgt. Die Entwicklung wird unter völliger Kontrolle der Umwelt gese­hen, wie zugleich die äußeren Kräfte (Reize und Verhaltensfolgen) als Ursachen der Veränderung angesehen werden (Sozialisationsforschung der Konditionierung, Gewirtz). Auch hier wird unterstellt, daß die Prozesse des Erwerbs und der Veränderung für Säuglinge und Kinder gelten wie für Erwachsene und Greise. In den Konstruktivistischen Stadientheorien (auch als organismische Theorien bezeichnet) ist Entwicklung in gewisser Weise eine Selbstkonstruktion. Der Mensch braucht zwar eine Umwelt, ihre Anregungen und Wider­stände, aber die Umwelt determiniert nicht seine Entwicklung, sie selbst wird durch den erkennenden Organismus als inneres Modell konstruiert. Piaget  sieht demzufolge das Indi­viduum in einer aktiven Rolle, nicht die Umwelt. Der sich entwickelnde Mensch ist aktiv, er erkundet, er strukturiert seine Umwelt, er sucht und verarbeitet Informationen. Dabei erge­ben sich Probleme, die in ihrer Struktur typisch für den jeweils er­reichten Entwicklungsstand der Erkenntnisinstrumente sind. Die Lösung dieser Probleme führt zum nächsten Entwicklungsstadium usw. Andere Theorien gehen von einer Interaktion zwischen Person- und Umweltveränderungen aus und betrachten damit den Menschen und die Umwelt als Gesamtsystem. Bei diesem interaktionistischen Ansatz werden sowohl der Mensch als auch die Umwelt als in einer aktiven Veränderung begriffen, wobei die Veränderung eines Elementes zu Veränderungen auch anderer Elemente und des Gesamtsystems führt. Die Veränderungen werden hier als zum Teil individuelle, zum Teil gruppen- und kulturspezi­fische Verarbeitungen der jeweils unterschiedlichen kulturellen An­gebote und Anforderungen und von daher als sehr verschieden dargestellt.

4. Einige alte Themen der Entwicklungspsychologie

4.1 Thema: Entwicklung als Interaktion von Anlage und Umwelt

Bis heute besteht die Kontroverse, ob den Erbanlagen oder den Umweltein­flüssen mehr Gewicht bei der Genese eines Merkmals zukomme. Es ist klar, daß Gewisse Krankheiten auf bestimmte Chromosomen­anomalien zurückzuführen sind. Manche Phänomene scheinen so auf ein einziges Gen zurückgeführt werden zu können, andere wiederum sind durch das Zusammenwirken vieler verschiedener Gene ausgelöst (etwa Intelligenz). Der Erbeinfluß kann durch Reinzüchtung (stetige Kreuzung mit Individuen gleicher Phänomenstruktur) oder durch Populationsgenetische Analysen festgestellt werden. Frage also, ob die phänotypischen Unterschiede auf Anlage-und/oder Umweltunterschiede zurückzuführen  ist (Genotyp = Gesamtheit der Erbfaktoren eines Lebewesens; Phänotyp = Erscheinungsbild eines Individuums). Es gibt hier verschiedene Methoden: 1. Zwillingsuntersuchung (sagt, daß Unterschiede bei Eineiigen Zwillingen durch Umwelteinflüsse kommen müssen, bei Zweieiigen durch Umwelt und Erbanlagen), 2. Untersuchungen an Adoptivkindern (ähnlichkeit von biologischen Eltern und früh adoptiertem Kind kann nur durch Anlage kommen), 3. Studien über Wirkungen spezifischer Umwelteinflüsse (durch Interventionsforschung, Untersuchung von Lebensereignissen, Lebenslagenvergleich). Die populationsgenetischen Analysen beschreiben immer die Verhältnisse in der unter­suchten Population. Erst wenn herausgefunden wird, daß Umwelt keine Merkmalsveränderung bewirkt, kann hoher Erblichkeitskoeffizient sagen, daß Merkmal kaum von Umwelt beeinflußt wird.

 

4.2 Thema: Reifung, Konstruktion oder Sozialisation

 

Reifungsprozesse, die nach einem inneren Bau- und Veränderungs­plan einsetzen und vollzogen werden, können dann angenommen werden, wenn andere Erfahrungseinflüsse ausgeschlossen sind. Die Analyse derartiger Umstände ist jedoch nur bei Tieren oder in solchen Zusammenhängen möglich, bei denen der Mensch durch widrige Umstände nicht dazu in der Lage war, soziale Kontakte zur Außenwelt aufzunehmen (Kind, das bei Wolf aufwächst, Stichwort Friedrich II). Aber Obwohl wir die Aufbau- und Entwicklungsprozesse heute nicht lückenlos nachvollziehen können, ist anzunehmen, daß auch die nicht geleitete Entwicklung analog den unterrichtlichen Konstruktionen verläuft, wenn auch weniger gezielt und syste­matisch. Wir müssen also nicht immer Reifungsprozesse postulieren, wenn wir auf solche Altersgrenzen für den Erwerb einer Kompetenz stoßen. Es ist auch zu prüfen, welche Ent­wicklungsphänomene wir als Sozialisation beschreiben können, ob es Entwicklungen gibt, die nicht als Sozialisation zu bezeichnen sind. Damit steht die Altersgliederung als gesellschaftliche Normierung in engstem Zusammenhang, demzufolge jede Altersgruppe typische Rollen zu über­nehmen hat, in denen Verhaltenserwartungen und -vorschriften der Ge­sellschaft gebündelt sind, so daß altersspezifische Erwartungsstrukturen existieren.

Offenbar gibt es Veränderungssequenzen, die in allen kulturellen Anforderungen und Angeboten invariant sind, ebenso kennen wir aber auch Veränderungen, die kultur- und zeitspezifisch sind (z.B. Mode). Piaget geht zudem von gesetzmäßigen Entwicklungsveränderungen nur dann aus, wenn er Strukturen, nicht wenn er Inhalte betrachtet. Wie diese „inhaltlich gefüllt“ sind, ist eine Frage der Angebote aus der materiellen und sozialen Um­welt, also auch eine Frage der Sozialisation.

Die Voraussetzungen für den Erwerb bestimmter Fähigkeiten (etwa von Sprache, Zeichnen, log. Operationen) scheinen erst mit einem bestimmten Entwicklungs- oder Reifestand gegeben zu sein. So geht man üblicherweise in den Phasentheorien davon aus, daß Erwerbsvoraussetzungen nach einem inneren Bauplan heranreifen und nicht etwa durch Unterricht und Erziehung vermittelt werden können (abwartendes Verhalten in der Pädagogik). Neben der Annahme eines bestimmten Reifestandes, lassen sich auch sensible Perioden als Entwicklungsabschnitte definieren, wäh­rend welcher im Vergleich zu vorangehenden oder nachfolgenden Perioden spezifische Erfahrungen maximale Wirkungen haben, wobei deren Beginn durch den Erwerb von Erfahrungsvoraussetzungen erklärbar ist. Ebenso wie der Erwerb, so ist auch die Minderung von Erfahrungseinflüssen erklärbar, etwa durch Freuds Konzeption der Fixierung, die zu einer Stabilisierung von Ängsten oder zu einer Fixierung von Vorurteilen führen kann, wodurch weitere Erfahrungseinflüsse abgeschnitten werden können.

 

4.3 Thema: Kontinuität und Diskontinuität in der Entwicklung

Die interindividuellen Unterschiede sind zwischen verschiedenen Personen im gleichen Lebensalter in den ersten beiden Lebensjahrzehnten eher gering. Zugleich sind jedoch die Veränderungen innerhalb der ersten Lebensjahre des Kindes enorm. Derartige Metamorphosen stehen jedoch in einem Spannungsver­hältnis zum Entwicklungsbegriff, da diese, im Verständnis von Piaget, als eine Transformation von einer Ausgangsstruktur in eine neue Struktur meint, womit die Kontinuität im Wandel erkennbar sein muß, um von Entwicklung zu sprechen. Demgegenüber steht der Stabilitätsbegriff (Der Intelligenzquotient bleibt bis zum frühen Erwachsenenalter stabil, ändert sich aber: „Die Intelligenzleistung als solche wird durch das IQ-Maß nicht erfaßt, sondern nur die Position eines Individuums in seiner Alters-population). Stabilität umfaßt nach Kagan unterschiedliche Ausprägungen: 1. absolute (Merkmal verändert sich nicht), 2. ipsative (ein bestimmtes Gefüge bleibt erhalten), 3. normative (Interindividuelle Unterschiede bleiben innerhalb einer Bezugsgruppe erhalten), 4. strukturkontinuität (phänotypisch unterschiedliche Verhaltensweisen werden auf die gleiche grundle­gende Struktur zurückgeführt). Meint der Eigenschaftsbegriff in der Alltagspsychologie die absolute Stabilität von Merkmalen, so enthält der wissenschaftliche Eigenschaftsbegriff die Annahme interindividueller Unterschiede, die in der Zeit stabil bleiben (normative Stabilität).

Auch Kontinuität als Entwicklungssequenz umfaßt nach Flavell mehrere Dimensionen: 1. Additiv (als Wachstum, als Hinzukommen neuer Elemente bei Beibehaltung der alten, etwa Wortschatz), 2. Substitution (Ersetzen oder Verschwinden des Früheren, etwa vom Robben zu Krabbeln), 3. Modifikation (neue Form, die als verbesserte oder reifere Variante als die Alte anzusehen ist, also ein qualitativer Wandel), 4. Differenzierung (ein Aufbauprozeß, der durch den Einbezug zusätzlicher Inhalte und Relationen spezifiziert wird, Säugetier zu Hund), 5. hierarchische Integration (Unterscheidung von Merkmalen und Komponenten an einem ursprünglich undifferenzierten Ganzen). 
Entwicklung ist der Aufbau immer komplexer werdender Strukturen, wobei aus der Art der im System hergestellten Relationen die qualitativen oder strukturellen Veränderungen ablesbar sind.

Stadien- oder Stufenmodelle ist durch folgende Aspekte gekennzeichnet: 1. Richtung (positivere Bewertung eines Zustandes), 2. Diskontinuität (qualitative Veränderungen), 3. Phase des Stillstandes (während neuer Erwerbungen konsolidiert und angewendet), 4. Sequentieller Aufbau (die neue Stufe basiert auf dem alten). Als wichtigste Komponente des Modells kann die Annahme einer gerich­teten Sequenz mit notwendigen Veränderungsschritten angesehen werden.

5. Einige aktuelle Themen

5.1 Thema: Entwicklungspsychologie unter dem Aspekt der gesamten Lebensspanne

Auf einige der alten Themen trifft man immer seltener: so spricht man kaum noch über Reifestand und sensible Perioden in der Entwicklung. Stattdessen rücken neue Gebiete ins Blickfeld der Entwicklungspsychologie, wie die der Lebensspanne. Hier rückt der Aspekt in den Vordergrund, daß entwicklungsmäßige Veränderungen von der Konzeption bis zum Tod möglich sind, daß es somit fraglich sei, ob der Entwicklungsbegriff für den Typ der uni­versellen, invarianten, irreversiblen, unidirektionalen, altersgebun­denen Veränderung zu reservieren sei. Im Erwachsenenalter sind Veränderungen nicht mehr auf ein bestimmtes Ziel gerichtet, stattdessen würden sich hier die Veränderungen eher Person- oder Subkulturellspezifisch vollziehen. Das metatheore­tische Modell der Entwicklungspsychologie der Lebensspanne ist ein kontextualistisches oder transaktionales. Die Forschung konnte so große interindividuelle Differenzen der Alterung darstellen, die auf den Einfluß durch Beruf, Familie, Krankheit zurückzuführen ist. Es ist mittlerweile klar, daß auch die Entwicklung des Individuums einem historischen Wandel unterliegt, die Entwicklungspsychologie für jede Generation damit neu ge­schrieben werden muß, was vor allem auf einen Wandel der Institutionen (etwa Familie usw.) und der Gesellschaft (Schulungsmöglichkeiten usw.) zurückzuführen ist. Schaie warf die Frage nach Entwicklungsnormen auf und gelangte zu der Einsicht, daß die geringere Lei­stung der Älteren demnach nicht als Intelligenzverlust, sondern von Anfang an als geringeres Niveau dieser Generation anzusehen ist. In diesem Zusammenhang stellte Cattel fest, daß die fluide Intelligenz (die Fähigkeit zur Lösung neuartiger und ungewohnter Probleme) im Alter nachläßt, während die kristallisierte Intelligenz (Bestand an kulturell relevantem Wissen ) hingegen ansteigt.

5.2 Thema: Lebensereignisse und ihre Bewältigung

Zunehmend rückt nun auch die Bedeutung einzelner Lebensereignisse in den Brennpunkt des Interesses von Entwicklungspsychologie. Dies wird etwa in Freuds Neurosenkonzept oder der Wahrnung Bowlbys vor Trennungssituationen (Elternschaft, Partnerschaft, Generationenstigmatisierung usw.) sichtbar. Man richtet in der Entwicklungspsychologie das Augenmerk eher auf Lebenslagen als auf einzelne ,Lebensereignisse (Familie, Zugehörigkeit zu Gruppe usw.), da man zu der Einsicht gelangte, daß die hypostasierten Wirkungen (Streß, Umstellung von Lebens-zielen, Umstellung in der Lebensführung) nicht unmittelbar aus einem einzelnen datierbaren Ereignis herrühren, sondern daß dieses nur eine mehr oder weniger allgemeine Veränderung der Lebenssi­tuation einleitet. So unterscheiden sich Ereignisforschung und Entwicklungsforschung darin, daß erstere Veränderun­gen von Lebenslagen (hier erlaubt die Veränderung eine Ursache-Wirkung-Interpretation) ins Auge faßt, während letztere nur Unter­schiede in Lebenslagen untersucht. Die Erforschung von einzelnen Lebensereignissen beinhalten hingegen die Möglichkeit, daß hier Experimente des Lebens realisiert werden, wie sie empirisch nicht nachvollziehbar sind. So muß etwa gesehen werden, daß objektive Veränderungen der Lebenssituation durch ein Ereignis über den Lebenslauf durchaus variieren kann (etwa Verlust der Mutter zu verschiedenem Alter). Auch die Bedeutung von Ereignissen und Krisen muß unterschiedlich bewertet werden. Für den einen bedeuten sie eine Stärkung, für andere nicht. Die Frage lautet daher: Wer lernt was in welcher Lebenskrise? Zudem muß zwischen aktuellen und langfristigen Folgen, sowie zwischen positiven (auch diese können kritische Phasen auslösen) oder negativen Ereignisse unterschieden werden.

5.3 Thema: Anthropologische Vorannahmen in Forschung und Theorienbildung

Man gelangt zudem zu der allgemeinen Einsicht, daß Forschungsprogramme und Theorien eingebettet sind in Menschenbildhypothesen, die ein Vorverständnis über den Gegenstand und über die Realität schaffen. Die in der Forschung verwendeten Kernannahmen wirken selektiv und bestimmen die Fragestellung.

In diesem Sinne geht auch der Behaviorismus von einer bestimmten Fragestellung aus, nämlich ob daß Subjekt Gestalter seiner Entwicklung ist oder ob seine Entwicklung von anderen Kräften gelenkt wird. Das Behavioristi­sche Menschenbild postuliert einen passiven Menschen. Er ist durch externe Reize mechanistischen Kausalität (der Wirkursa­che) kontrollierbar, deren Manipulation jedes gewünschte Ergebnis bringt, so daß die Entwicklung je nach Ein­flüssen unterschiedliche Richtungen annehmen kann. Die äußere Ursache ist dabei die unabhängige Variable, die Ver­änderung die abhängige. Durch die klare Zuordnung der abhängigen Variablen wird die Nähe zu experimenteller Forschung sichtbar. Stand dieser Ansatz lange Zeit im Vordergrund, so wird mittlerweile der reflexive Mensch postuliert, der nicht allein auf äußere Reize reagiert, sondern der handelnd seine Umwelt erfährt und dabei durch neue Einsich­ten möglicherweise seine Ziele revidiert. Der Mensch tritt dabei in Interaktionen mit einer sozialen Umwelt konstruiert dabei eine persönliche Identität (Mead). Damit nehmen interaktionistische Modelle an, der Mensch sei Produkt und Gestalter der Umwelt. Wie der Mensch Einfluß auf seine Umwelt nimmt, dies Untersuchen Lerner/Busch-Rossnagel: 1. der Mensch hat zu jedem Zeitpunkt eine Wahl bezüglich seiner sozialen und materiellen Umwelt (Freunde, Partner usw.), 2. Der Mensch trifft seine Wahlen auf der Basis subjektiver Definitionen oder Kodierungen seiner Umwelt, wobei er die Situation selber definieren kann (ein Kind mag fremde, anderes nicht), 3. Das Bild von sich gestaltet sich und anderen in sozialer Interaktion, gegenseitige Beeinflussung.

Behaviorismus nimmt keine spezifischen Entwicklungsziele an, sondern die einflußnehmenden Instanzen geben die Ziele vor
Stadientheorien nehmen eine auf Reifestadium gerichtete Entwicklung an, „was sozusagen das natürliche End­ziel einer Entwicklung darstellt

humanistische Psychologie (z.B. Fromm): es werden beim Menschen immanente Ziele postuliert

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