Die Antisemitismusdebatte um Alfred Andersch Verfasst von: Alexander Miró (Hamburg, 1999) 2. Biographische Hinweise für eine Antisemitische Einstellung Anderschs 3. Werkimmanente Vorwürfe des Antisemitismus 1. Einleitung:Beschäftigt man sich mit Alfred Andersch, so rückt vor allem seine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ins Zentrum des Blickfeldes. Diese Auseinandersetzung jedoch, ist nicht unabhängig einer immer wieder auftauchenden Kritik zu beschreiben. 2. Biographische Hinweise für eine Antisemitische Einstellung AnderschsIm Zentrum dieser Kritik steht die sogenannte Antisemitismusdebatte, die sich in verschiedenen Rezensionen zeigte. Die Kritik gegen Andersch wird dabei oftmals nicht nur werkimmanent geführt, sondern es werden darüber hinaus auch biographische Anhaltspunkte sowie Aufzeichnungen und Dokument aus seinem privaten Bereich herangezogen. Eingeleitet wurde sie durch eine Kritik W.G. Seebalds die Andersch vorwarf, er habe mit seinen Romanen eher zur Verundeutlichung, zu einer Verhüllung der Wahrheit und zur Verwischung der Grenzen zwischen Opposition und Konformismus beigetragen. Bei ihr wird die Kritik z.T. sehr unsensiblel zum Ausdruck gebracht. Zudem stützt sich ihr Beitrag weniger auf eine werkimmanente, als vielmehr auf eine der Biographie Anderschs entnommenen und eher in den Bereich der Spekulation fallenden Aussage. So zeichnet Seebald etwa aus der sehr späten Desertion Anderschs ein Bild, indem sie ihm vorwirft, ihm sei nichts ferner als die Idee des Widerstands gelegen. Zudem ließen sich hieraus eindeutige Hinweise für einen gewissen Grad an opportunistischer Identifikation mit dem erfolgreichen Regime der Nationalsozialisten entnehmen. Einen weiteren Hinweis auf Andersch zwiespältige Gesinnung bezüglich des NS-Regimes entnimmt sie der Zeit seiner ‚inneren Emigration‘,, in die ihn seine zweite Inhaftierung durch die Nationalsozialisten führt und aus der er in die Welt der Ästhetik flieht. Andersch beschreibt diesen Lebensabschnitt in seiner Autobiographie folgendermaßen: „Der Preis, den ich für die Emigration aus der Geschichte bezahlte, war hoch; höher als der, den ich leisten mußte, als ich mit der Kommunistischen Partei in der Geschichte gelebt hatte. Oder zahlt man nicht zu teuer, wenn man den Revolver vergißt, den einem der Brigadeführer Eicke angedroht hat für den Fall, daß man noch einmal nach Dachau käme – wenn man ihn wirklich und vollständig vergißt, um statt dessen im Schmelz der Lasuren Tiepolos die Wiederentdeckung der eigenen, verlorenen Seele zu feiern? Ich brachte dieses Kunststück fertig. Ich antwortete auf den totalen Staat mit der totalen Introversion.“ In Kirschen der Freiheit bringt Andersch zum Ausdruck, daß es für ihn nach seinem ersten Aufenthalt in Dachau klar war, daß er, um einer zweiten Einlieferung zu entgehen, alles gesagt und zugegeben hätte, was man von ihm verlangte. Für mich erscheint es zumindest fraglich, ob nach diesem Lebensweg, nach den Erlebnissen einer Internierung und einer zweiten Gefangennahme durch das Regime, das Urteil einer Angleichung ohne weiteres gefällt werden kann. Die Flucht bzw. der Weg zur Ästhetik kann ebenso als Prozeß der Auseinandersetzung mit seiner Situation oder als Neuorientierung seiner politischen Ziele verstanden werden, die außerhalb der radikal kommunistischen und vielmehr auf dem Boden einer intellektuellen Reflektion zu suchen sind. Die Abkehr von seinem aktiven, in die kommunistische Partei integrierten Widerstands und der Weg in eine eher geistige Oppositionsarbeit mag, auch in anbetracht des künstlerischen Potentials Anderschs, aus dieser Sicht auch ein Schritt der Reifung, der inneren Entwicklung darstellen. Ob nun in den Werken Anderschs eine neue „Sachlichkeit“, eine „Kunst, die ihr Prinzip hat in der Ästhetisierung der technischen Errungenschaften, in der Ästhetisierung der Politik bzw. des politischen Defätismus und letzten Endes, in der Ästhetisierung der Gewalt und des Krieges“(Seebald S.83) zum Ausdruck kommt, wie Seebald es definiert, möchte ich hier nicht einer letzten Bewertung unterziehen. Stattdessen scheint es mir sinnvoll auch auf eine andere Lesart seiner Werke und, vor allem, eine deutlichere Trennung zwischen Werk und der persönlichen Biographie des Autors hinzuweisen. Ein Umstand, der sehr deutlich bereits von Battafarano herausgearbeitet wurde. Für ihn sind die Werke der Literatur wichtiger als die Biographie des Autors. Die Biographie eines Autors gereicht höchstens als ein indirektes Hilfsmittel zur Präzisierung bestimmter Verhältnisse des Werkes. Sie sagt aber nichts analytisch Nennenswertes über das Werk selbst aus. Battafarano hält es für schwierig, wenn man scheinbare Widersprüche zwischen den Aussagen eines literarischen Autors und dessen Werk erkennt und als Hauptargument in die Debatte wirft, da hierdurch die Grenzen zwischen Biographie und der Ästhetik verwischt würden, was der Erkenntnis keinen Nutzen bringen würde. Für ebenso Kritikwürdig scheint ihm die Argumentation Seebalds bezüglich Anderschs Briefe an seine Mutter, aus denen sie eine Andersch-Interpretation zaubert, die ihn im Lichte eines Erfolgssüchtigen, Erfolgsabhängigen und von sich selber maßlos überzeuten Autor erscheinen läßt, nach dem Motto: Andersch gegen den Rest der (literaten-) Welt. Battafarano weist zurecht darauf hin, daß viele Erkenntnisse aus den Privatbriefen an seine Mutter stammten, was jedoch anders bewertet werden müßte als die für die Öffentlichkeit bestimmten Aufsätze, Essays oder Romane. Da die Briefe nur den Autor und den Adressaten betreffen, daß Publikum damit jedoch ausgeschlossen sei, könne dies nicht in eine öffentliche Interpretation seines Werkes einen Eingang finden, da in privaten Mitteilungen Übertreibungen jeglicher Art gestattet seien und sich zudem sehr private Gründe und Argumentationslinien die objektive Einschätzung und Interpretation verwässern, „nämlich als die Briefe eines Sohnes, der der alten Mutter, bei der er als der Unbegabte in der Familie galt, nun liebevoll beweisen will, er sei doch etws geworden, er, der auf dem Gymnasium, unter der Schulleitung vom Vater des Heinrich Himmler, versagt hatte.“ (Battafarano, S.245). Battafarano hält zudem die biographischen Hinweise oder gar Belege für eine Antisemitische Einstellung Anderschs für eher spärlich. Auch die Vorwürfe, die aufgrund seiner Scheidung und der damit verbundenen Gefährdung seiner ersten Frau, einer Halbjüdin, hervorgebracht werden, sind aus der Sicht Battafarano auf äußerst dünnen und doppeldeutigen Fakten gegründet. Die Kritik richtete sich vornehmlich dagegen, daß Andersch vor allem, so Seebald, „mit der Neuausrichtung seines Lebens beschäftigt gewesen“ ist. Um seinem literarischen Fortkommen, für die die Aufnahme in die Rechsschrifttumskammer unerläßlich war, keine Hindernisse in den Weg zu legen, habe Andersch seine Ehe mit seiner damaligen Frau verleugnet und sich dadurch die Möglichkeit offengehalten, auch zur Zeit des Nationalsozialismus seiner literarischen Arbeit nachzukommen. 3. Werkimmanente Vorwürfe des AntisemitismusEine sensiblere und, nach meinem dafürhalten, lohnenswertere Auseinandersetzung um Anderschs Umgang mit dem Nationalsozialismus, läßt sich in einer Werkimmanenten Beschäftigung herstellen. Immer wieder traten Stimmen in den Fordergrund, die in den Werken Anderschs einen versteckten Antisemitismus entdeckten. Für Battafarano erwächst gegen diese Vorwürfe die Erkenntnis, und dies läßt sich unmittelbar auf die im vorigen Abschnitt dargestellte Auseinandersetzung beziehen, daß das Werk Anderschs nicht aus dessen weit zurückliegenden Verhaltensweisen beurteilt werden kann, da, wie bereits erwähnt, hierdurch eine Verwischung zwischen Ästhetik und der persönlichen Biographie des Autors nicht zu vermeiden wäre. Dieser Zusammenhang wird besonders markant in Anderschs Roman „die Rote“ in Szene gesetzt, bei dem die Auseinandersetzung der ‚nachgeborenen‘ Deutschen mit der Vergangenheit des eigenen Volkes einen zentralen Stellenwert einnimmt. Franziska äußert nach ihrer Begegnung mit dem Juwelier Kramer gegenüber die Ansicht, sie hasse Shakespear, wenn sie an Shylock denke. Insbesondere Heidelberger-Leonberg bezieht sich auf diese Aussage Franziskas und sieht hierin entweder Anderschs antisemitische Gesinnung in Purform oder aber einen Hinweis auf dessen literarische Ungeschicklichkeit durchschimmern. Dem entgegnet Battafarano in zweierlei Punkten: Zum einen weist er eben darauf hin, daß diese Aussage innerhalb eines fiktionalen Zusammenhanges von einer Romanfigur getroffen wurde. Franziska Lucas darf daher auch nicht mit Andersch verwechselt werden, der allerdings eine ausgsprochene Sympathie für diese Figur zu besitzen scheint. Es scheint jedoch unsinnig und wenig hilfreich bei der Analyse, die gedanklichen Unzulänglichkeiten einer Romanfigur mit diejenigen ihres Autors gleichzusetzen, der diese Unzulänglichkeiten in Szene gesetzt und für seinen Roman konstruiert hat. Zum anderen erfolgt diese Aussage Franziskas im Schatten der zuvor durchlaufenen und auf sie äußerst negativ erfahrenen Erlebnisse, in der sie sich in der (Roman) Realität einer Interaktions- und Handlungssituation gegenübersieht, die eine ähnliche Struktur aufweist, wie sie ihr aus Shakespears ‚Der Kaufmann von Venedig‘ in Erinnerung geblieben ist – nämlich das äußerst negative Erscheinungsbild des Juden, dem sie, aufgrund der sie verbindenden Geschichte, hilflos ausgeliefert scheint. Franziska erlebt hier selber, daß sie, in einer Situation, da sie sich in einer Notsituation befindet und schlecht vom Juwelier behandelt wird, diesen nicht ‚normal‘ behandeln kann, sich nicht angemessen gegen ihn ‚verteidigen‘ kann, weil sie in ihm nicht nur den Geschäftsmann sieht, der mit unlauteren Methoden versucht, sich an ihr zu bereichern, sondern weil sie in ihm überdies den Juden sieht. Das historische Bewußtsein über die Vergangenheit ihrer ‚Täter-Väter‘ bringt sie dazu, sich schuldig zu fühlen. Battafarano leitet aus dieser Konstellation die Fragen ab, die auch mit den gegen Andersch hervorgebrachten Vorwürfen in Verbindung stehen: Er stellt sich die Frage, nach einer nachträglichen Kontamination, nach einer im nachhinein stattgefundenen Bedeutungszuweisung. Es ist die Frage, ob Shakespeares Werke durch Taten, die nach ihm geschahen, anders bewertet werden dürfen. Wenn die Juden im 20. Jahrhundert nicht verfolgt worden wären, wäre dann Shakespeares Shylock vielleicht doch nur in die Reihe jener negativen Volkstypologien in der Literatur eingereiht worden. Auch nichtjuden hätten wahrscheinlich (vielleicht) so gehandelt, wie der Juwelier. Franziska trägt sich aus dieser Sicht mit Lebensmodellen und Klischees herum, die aus der Literatur stammen. Battafarano macht darauf Aufmerksam, daß nach Auschwitz jede typologische Negativität, die in der Literatur für bestimmte Charakterisierungen dient, daß jeder Hinweis innerhalb eines Romans auf jüdische Figuren oder auf antisemitische Strukturierungselemente, um so stärker, wenn sie von einem deutschen Autor stammen, sehr sensibel registriert werden und stark vorbelastet sind. Nach Auschwitz kann man Literatur nicht mehr wie früher lesen, Auschwitz hat auch die Literatur kontaminiert. Alles wird und muß finalisiert werden. Jede typologische Negativität, die in einer literarischen Fiktion für bestimmte Charakterisierungen, die in einer Erzählung oder in einem Roman den dramatischen oder erzählersichen Zielen dient, ist nach der Zeit des Nationalsozialismus mit einer Meta-Negativität beladen, die der Autor nicht intendiert. Innerhalb der Fiktionalen Welt des Romans haßt Franziska Shakespeare nicht weil sie Juden wie Shylock haßt, sondern weil sie nach Dachau Shakespeare nicht mehr unvoreingenommen lesen kann. Insofern kommt Battafarano zu einem Schluß, der die Kritik gegenüber Andersch in einen gesellschaftsrelevanten Rahmen hebt: Die Judenvernichtung hat demzufolge auch einen Teil der Bildungstradition innerhalb und außerhalb deutschlands zerstört, da weder der Autor unvorbelastet aus seinem Reservoir an Stilelementen schöpfen kann, ohne daß er sich in der Gegenwart aufgrund der Vergangenheit schuldig zu machen droht, noch kann der Leser sich unbefangen diesem Werke nähern, da auch seine Interpretation, seine Lesart sich immer an den jüngsten Ereignissen der Geschichte orientieren wird. Diese Aussage ist jedoch nicht mißzuverstehen: Eine historische Einordnung, die Herstellung eines Kontextes und die Eingliederung in einen Gesamtzusammenhang, in dem sich der Text präsentiert ist durchaus notwendig. Wie ich Battafarano verstehe, gilt es jedoch die Unterwerfung des Werkes unter die historischen Ereignisse zu vermeiden. Die Darstellungen um Franziskas Begegnung mit dem Juwelier verweist bereits auf ein generelles Problemfeld in Anderschs Werken, die immer wieder Anlaß für Kritik bot – insbesondere einer Kritik, die sich mit einer antisemitischen Gesinnung in Andersch Leben und Werk beschäftigt. In vielen seiner Werke wird, wenn auch nicht immer umfangreich und erschöpfend, so doch implizit die Beziehung zwischen Opfern und Tätern dargestellt. Dieses Beziehungsgeflecht taucht in ‚Die Rote‘, wie bereits dargestellt, im Beziehungsdreick Juwelier-Franziska-Kramer und darüber hinaus in einer Analogiebeziehung zwischen O´Malley und Franziska auf. Bei Efraim ließe sich diese Beziehung auf die Figur Esthers beziehen. Als jüdisches Kind, daß wahrscheinlich dem Naziterror zum Opfer gefallen ist, wird auch ihr eine Figur wie Keir gegenübergestellt, der zu ihr in einem verwandtschaftlichen Verhältnis steht und zugleich die Täterrolle repräsentiert, in Analogie zu „Die Rote“ also auch die Figur des Täter-Vaters darstellt. Gleichermaßen wird uns auch Judith als hilfloses Wesen präsentiert, die in Gregor einen heldenhaften Retter gefunden hat. Auch in „Sansibar“ wird also die jüdische Figur in einem Abhängigkeitsverhältnis dargestellt, die auf die Hilfe des Deutschen angewiesen ist, der sich hier jedoch selber gegen das Regime auflehnt. Die Romane stellen insofern ein ähnliches Muster bereit, in denen Machtverhältnisse (im Sinne der spezifischen Täter-Opfer-Beziehung des Nazideutschlands) und (persönliche) Abhängigkeitsverhältnisse synonym verwendet werden, ohne daß jedoch bei dieser Darstellung der Machtverhältnisse auf strukturelle Eigenarten und Besonderheiten des Faschismus eingegangen wird. Durch eine solche Darstellung wird, so die Kritik Weigels, eine Universalisierung vorgenommen, die dem Nazismus jede Spezifik nehme. Der Nazismus wird nach Ansicht Weigels bei diesen Darstellungen in eine Beziehungskonstellation verschoben, die sie in den Bereich des Geschlechterdiskurses einordnet. Sie sieht ein ‘antifaschistisches’ Gedächtnis, das einem männlichen Geschichtsbild angehört und zugleich den Geschlechterdiskurs und die Geschlechterdifferenz ausblendet. Auf der anderen Seite, sieht Weigel im literarische und kollektiven Gedächtnis Westdeutschlands ein Diskursmusters sich ausbilden, die die jüngste Vergangenheit in Konstellationen des Familialen, der Generationen und Geschlechterverhältnissen betrachtet. Hierbei wird der Vater als Täter, der Sohn als Opfer, sowie die Frau im sexualisierten Bild der entweder Opfer-oder Täter-Dichotomie dargestellt. Die Erinnerung und das Vergessen der Ereignisse wird damit aus dem Sozialen und Historischen herausgeholt und nur noch in Schuldige und Unschuldige eingeteilt, obwohl diese in einem gemeinsamen Schuldzusammenhang stehen. Es finde nun mit dem Geschlechterdiskurs im NS-Gedächtnis eine konvertierung der ethnischen Vorstellungen statt, die vordergründig den Begriff Rassismus ausspart, aber dennoch zu einer Verschiebung des ethnologie-Begriffes führt. Die Figuren des Geschlechterdiskurses werden somit im NS-Gedächtnis zum Handlanger eines verschobenen Nationalbegriffes. Damit werden zugleich, so ihre generelle Kritik, die spezifischen und strukturellen Machtverhältnisse dieses Terrorregimes ausgeblendet, da als vergleichbar und übertragbar dargestellt. Wie wird dieser, auf den ersten Blick sehr abstrakt anmutende theoretische Unterbau von Weigel nun in den Werken wiederentdeckt und beschrieben? Ihre Ausführungen hierzu schließen sich im wesentlichen an die vorhergehenden Darstellungen bezüglich der Täter-Opfer-Beziehung an. So wird in „Die Rote“ ein direkter Bezug zwischen Franziska als Opfer in einer Liebesbeziehung und O´Malley als Opfer des Nazi-Täters hergestellt – es ist eine Analogiegeschichte zweier Opfer. Durch Analogisierung der NS-Konstallation und des Geschlechterverhältnisses auf der Grundlage des Opfer-Täter-Paradigmas und der darauffolgeden Substitution der Opfer-Täter-Beziehung durch die aus der Abhängigkeit der Ehe geflüchtete Frau, würde eine Kramer-Franziska-Beziehung entstehen, die die Gleichheit, die Ählichkeit der beiden Figuren symbolisiert. Diese Ähnlichkeit wird sowohl durch die gleiche Nationalität, aber auch durch eine von beiden empfundene Nähe, die sich im Widerstreit zwischen Anerkennung und Haß darstellt, ausgedrückt. Die Beziehungskonstellation dieser Figuren erreicht letztlich ein Gefüge, indem Kramer Franziska als Gleichwertig, als ihm ebenbürtig einschätzt, was aus seiner Sicht bereits aus der gemeinsamen Nationalität abgeleitet werden kann. Dies wiederum führt ihn dazu, auch Franziska als ‚beachtenswerten‘ Gegner einzuschätzen, als „eine, mit der man rechnen muß“ (Weigel, S.34). Die oben darstellte Beziehung der beiden Figuren wird hier also, auf der Grundlage von Weigels Interpretation, auf mehrere Arten hergestellt: auf der Basis der Nationalität und im speziellen auf der Grundlage der dadurch sie verbindenden historischen Ereignisse, auf der Basis des Geschlechterdiskurses, bei dem der Mann als Täter, die Frau aber als Opfer dargestellt wird und auf der Basis der Opfer-Täter-Beziehung. Wie bereits ausgeführt, kritisiert Weigel gerade diese Art der Figurenkonstellation, die aus ihrer Sicht eine Vermischung der Beziehungsebenen darstellt und daher den historischen Ereignissen nicht ausreichend Rechnung trägt. Die Konstellation, Weigel schildert sie ausschließlich anhand des Romans „Die Rote“, läßt sich auch in anderen Romanen wiederfinden. Auch bei Sansibar wird das Verhältnis von Judith zu Gregor in einer zum Teil erotischen Athmosphäre dargestellt. Zugleich und außerhalb dieser geschlechtlichen Beziehungsebene aber unterstützt Gregor die Jüdin bei der Flucht vor dem Naziregime. Ebenso erscheint die Verbindung der Opfer-Täter-Verbindung im Roman „Winterspelt“. Käthe ist in diesem Roman die einzige Person, die zu allen anderen Figuren in Kontakt tritt und so auch eine Beziehung zwischen dem Offizier der deutschen Wehrmacht Joseph Dincklage und dem Kommunisten Hainstock herstellt, der die Verbindung zur amerikanischen Armee herstellt. Die Verwischung der Ebenen beginnt dort, wo auch hier die geschlechtliche Konstellation (sie verbindet eine Liebesbeziehung mit beiden Figuren) mit der historischen Situation, der Auseinandersetzung zwischen dem NS-Regime und deren Bekämpfung, verbunden wird. So finden sich denn auch im Roman zwei ästhetische Grundstrukturen, um die die Handlung gruppiert ist: zum einen die Liebes- bzw. Dreiecksgeschichte zwischen Käthe, Dincklage und Hainstock, zum anderen der Plan Dincklages und deren Ausführung, die in enger Verbindung zu Schefolds Gang durch die Frontlinie steht. 4. WiedergutmachungsgedankeDas beschriebene Verhältnis in den dargestellten Werken Anderschs, die Überlagerung von Opfer-Täter-Beziehung und Geschlechterdiskurs, mündet nun oftmals in einen Zustand, der sowohl von Weigel als auch von Ruth Klüger registriert und beurteilt wird. So wird bei den Figuren oftmals der tiefe Wunsch erkennbar, die historischen Ereignisse zu verändern. Bei Franziska verdichtet sich dies im Wunsch der Protagonistin, vom Juden (dem Juwelier) angenommen zu werden, was wiederum durch eine Verschiebung in eine familiäre Beziehungsebene eingeleitet wird. Sowohl das Opfer (also der Juwelier), als auch Franziska als deutsche werden von dem Wunsch getrieben, sich familiär mit dem anderen verbunden zu wissen. In diesem Bild ist für die Nachgeborene der jüdische Opfer-Vater, der auf der Opfer-Täter-Beziehung durch Kramer bedroht wird, an die Stelle des deutschen Täter-Vaters getreten. Eben dies sieht Weigel als subtilste Verbindung von Geschlechter- und Rassendiskurs. Neben der strukturellen Vermischung zwischen Geschlechterdiskurs und der Opfer-Täter-Beziehung, wird hier darüber hinaus eine Ebene erreicht, die sich in den intimsten familiären Bereich erstreckt. Aus Weigel Sicht, würde Franziska damit als Figur der Gegenwart die für eine westdeutsche Person durchaus repräsentative Gedächtnisfigur darstellen, der ein Begehren nach dem Nationalen in verborgener und entstellter Form zum Ausdruck kommt. Ein weiterer Gedanke, der bei den letzten Darstellungen bereits anklingt und sehr konkret von Klüger ausgearbeitet wird, ist der Wunsch der deutschen Figuren, die Juden möglichst positiv zu behandeln. Klüger kennzeichnet damit den auffallend positiven Umgang der deutschen Figuren mit den in den Romanen auftauchenden Juden. Diese außergewöhnlich gute Behandlung der Juden, die in selbstverständlichster Form vollzogen wird, steht dabei im Widerspruch zur Realität und verfällt damit, so die Kritik Klügers, zum Kitsch, da Andersch dem Leser damit die fiktionale Darstellung der Ereignisse als Wirklichkeit präsentiert. Obwohl sich die Judendarstellung im Roman „Die Rote“ auf eine einzige Figur beschränkt, tritt hier der Wiedergutmachungsgedanke durch die Figur Franziskas noch am deutlichsten in Erscheinung. Weigel sieht die Rückgabe des Geldes an den Juwelier als einen schuldbesetzten Wiedergutmachungsversuch durch die Nachgeborene, in dem eine Mischung aus „Anerkennungsbegehren“ und „Schuldangst“ zu dem Wunsch führt, „von den Juden, den Opfern der Väter, angenommen zu werden.“ Ebenso wie bei Franziska, wird dies auch in der selbstlosen Rettungsaktion Judiths im Sansibar oder in der reflektion Efraims deutlich, der sich die Frage stellt, ob er die jüdischen Eltern lieben soll, nur weil sie zufällig Juden seien – eine Frage, die er anfänglich zwar mit nein beantwortet („Ich liebe meine Eltern, weil sie gute, nicht weil sie jüdische Eltern waren.“(Efraim, S.184)). Wenige Sätze später relativiert er seine Aussage jedoch, indem er sagt, daß er die Juden liebe, eben weil sie verfolgt wurden. Klüger vermißt bei dieser Art der „Vergangenheitsbewältigung“, die sie im Grunde innerhalb der literarischen Auseinandersetzung für zulässig hält, „die ironische Distanzierung“ des Autors, in dem er sein „Spiel der geheimen Wunscherfüllung“ offenbare. Literaturliste:– Andersch, Alfred: Efraim. Zürich 1967. – Andersch, Alfred: Sansibar oder der letzte Grund. Zürich 1970. – Andersch, Alfred: Die Rote. Zürich 1974. – Andersch, Alfred: Winterspelt. Zürich 1974. – Andersch, Alfred: Die Kirschen der Freiheit. Zürich 1968. – Battafarano, Italo Michele: Zwischen Kitsch und Selbstsucht – und auch noch Spuren von Antisemitismus? Marginalia zu Alfred Andersch: Eine Forschungskontroverse Sebald, Heidelberger-Leonard und Weigel betreffend. In: Morgen-Glantz 4 (1994), S. 241 – 257. – Heidelberger-Leonard, Irene: Alfred Andersch: Die ästhetische Position als politisches Gewissen. Zu den Wechselbeziehungen zwischen Kunst und Wirklichkeit in den Romanen. Frankfurt/M., Bern, New York, 1986. – Klüger, Ruth: Gibt es ein „Judenproblem“ in der deutschen Nachkriegsliteratur? In: Klüger, Ruth : Katastrophen. Über deutsche Literatur. Göttingen 1994, S. 9-39. – Kesting, Hanjo: Winterspelt. In: Haffmans, Gerd (Hg.): Über Alfred Andersch. Zürich 1980. – Koeppen, Wolfgang: Die Leute von Winterspelt. In: Haffmans, Gerd (Hg.): Über Alfred Andersch. Zürich 1980. – Müller, André: Meint Shylock einen Juden? Oder: Die Rückgewinnung einer Komödie. In: Sinn und Form, 30. Jg., 1978. – Reich-Ranicki, Marcel: Alfred Andersch, der Kitsch und die Lüge. In: Sonntagsblatt Nr.12, Frühjahr 1961. – Reinhold, Ursula: Alfred Andersch. Politisches Engagement und literarische Wirksamkeit. Berlin 1988. – Scherpe, Klaus: Alfred Anderschs Roman „Winterspelt“ – deutscher Militarismus und ästhetische Militanz. In: Heidelberger-Leonhard, Irene/ Wehdeking, Volker (Hg.): Alfred Andersch. Perspektiven zu Leben und Werk. 1994. – Schütte, Wolfram: Sachbuch über Denkweisen im Möglichkeitsfall. In: Haffmans, Gerd (Hg.): Über Alfred Andersch. Zürich 1980. – Sebald, W.G.: Between the devil and tehe deep blue sea. Alfred Andersch. Das Verschwinden in der Vorsehung. In. Lettre International 20 (Frühjahr 1993), S. 80-84. – Weigel, Sigrid: Zur nationalen Funktion des Geschlechterdiskurses im Gedächtnis des Nationalsozialismus. In: Zwischen Traum und Trauma – die Nation. Tübingen 1994, S. 27-37. |
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