Die Judendarstellung in ausgewählten Romanen Alfred Anderschs

Von: Alexander Miró (Hamburg, 1999)

 

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Judendarstellung in den Andersch Romanen ,,Sansibar oder der letzte Grund», „Die Rote“ und ,Erfraim» und bei Wiliam Shakespeares „Der Kaufmann von Venedig»

2.1. Die Judendarstellung in Anderschs Roman „Sansibar oder der letzte Grund»

2.2 Die Judendarstellung in Anderschs Roman „Die Rote“

2.3. Die Judendarstellung in Anderschs Roman „Efraim“

2.4 Die Judendarstellung in William Shakespeares Komödie „Der Kaufmann von Venedig“

3. Vermischung von Opfer-Täter-Paradigma und dem Geschlechterdiskurs

4. Die These der Wiedergutmachungsphantasie

5. Schlussbemerkung

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Alfred Andersch, so läßt sich sicher sagen, gilt als einer der umstrittensten deutschen Nach-kriegsautoren überhaupt. Von seinen Liebhabern wird er ebenso gefeiert wie von seinen Kritikern attackiert. Trotz (oder gerade aufgrund) dieses emotional geprägten Spannungsfeldes wird es mir in dieser Hausarbeit nicht darum gehen, etwa die Auseinandersetzung um seine biographischen Versäumnisse nachzuzeichnen oder gar in den Tenor der im Raum stehenden Kritik des Antisemitismusvorwurfes einzustimmen. Statt dessen möchte ich unter Bezugnahme seiner drei Romane „Die Rote“, ,,Sansibar oder der letzte Grund», „Efraim» sowie Shakespeares „Der Kaufmann von Venedig» ausschließlich Werkimmanent auf die Darstellung der jüdischen Figuren eingehen.[1]

Im Zentrum steht für mich die Frage, ob Andersch innerhalb dieser Werke überhaupt eine spezifische Opfer-Täter-Beziehung zwischen Juden und Nazionalsozialisten entwirft und wenn ja, wie diese sich darstellt. Darüber hinaus möchte ich zumindest hintergründig die in der Sekundärliteratur eher implizit als präzise formulierte Kritik mit in meine Betrachtung einbeziehen, ob sich Andersch tatsächlich einer eindeutigen Stellungnahme und Positionierung innerhalb seiner Werke zu entziehen versucht, wenn er etwa, wie Sigrid Weigel ihm vorwirft, eine ,,Überkreuzung dieses [Täter-Opfer-] Paradigmas mit Figuren und Bildern aus dem Geschlechter- oder Gattungsdiskurses[es] vornimmt.[2]

Das eine solche Fragestellung nicht zu bearbeiten ist, ohne auf die in diesem Zusammenhang stehende Antisemitismusdebatte einzugehen, ist evident. Neben dem Aufsatz von Winfried G. Sebald, der diese Debatte eingeleitet hat, werde ich daher auch die Stellungnahme Michele Italo Battafaranos hierzu einbeziehen. Zum Abschluß der Arbeit werde ich dann noch prüfen, inwieweit die von Ruth Klüger dargestellte These der „Wiedergutmachungsphantasie» den Erkenntnisgewinn für die Bearbeitung meiner Fragestellung erweitert.

2. Die Judendarstellung in den Andersch Romanen ,,Sansibar oder der letzte Grund», „Die Rote“ und ,Erfraim» und bei Wiliam Shakespeares „Der Kaufmann von Venedig»

Im folgenden werde ich die Darstellung der jüdischen Figuren in den genannten Romanen von Alfred Andersch und William Shakespeare einer detaillierten Analyse unterziehen. Sie wird sich darauf beziehen, in welchem Beziehungsverhältnis diese zu anderen Figuren stehen, wie die anderen Figuren auf sie reagieren und wie sie selber sich innerhalb dieser Figurenkonstellation Verhalten.

2.1. Die Judendarstellung in Anderschs Roman „Sansibar oder der letzte Grund»

Mit dem Roman ,,Sansibar oder der letzte Grund» stieß Andersch in die Gruppe der Er­folgsautoren vor. Der Roman wurde ein großer Publikumserfolg und avancierte zur Schullektüre im In- und Ausland. Andersch demonstriert hiermit, „dass sich emanzipatorische Absicht und hoher ästhetischer Anspruch durchaus vereinbaren ließen“.[3]  Vor allem finden hier die Verbindung seiner schriftstellerischen Qualitäten mit dem von ihm gezeigten politischen Engagement eine Würdigung.

Den Hintergrund der Handlung bildet der Versuch Anderschs einer ästhetischen Auseinandersetzung mit der Situation während des Nationalsozialismus. Für Ursula Reinhold erhält dieser moralisch-politische Appell Anderschs sogar den ,,Charakter einer Versuchsanordnung, eines ästhetischen Modells.»[4] Im Widerspruch dazu steht jedoch die physische Abwesenheit der Nationalsozialisten, die allenfalls unter dem Synonym ,,die Anderen» in Erscheinung treten. Die Darstellung der Juden kristallisiert sich einzig in der Figur Judiths› einer jungen Frau, deren Mutter am Tage zuvor Selbstmord beging, um der Tochter die Flucht vor der Nazidiktatur zu ermöglichen. Eher spontan als geplant reist Judith daraufhin in die kleine Hafenstadt Rerik, um von dort eine Flucht nach Schweden anzutreten. Als Helfer und Held innerhalb des Romans wird Judith der kommunistische Instrukteur Gregor an die Seite gestellt, in dem, nach Sebalds Vermutung, Andersch sich selber in heroischer Position darstellt.

Der Fluchtgedanke Judiths verknüpft sich in ,,Sansibar» mit der von Pfarrer Helander initiierten Rettungsaktion einer Holzfigur, die von den Nazis konfisziert werden soll, da

diese der Öffentlichkeit nicht mehr gezeigt werden darf. Somit tritt die Rettung der Holzfi­gur in einen direkten, fast analogen Zusammenhang zur Rettung der Jüdin. Ein Sachverhalt der Klüger problematisch erscheint, da ,,beide zu Dingen werden, die allem ausgeliefen sind, was mit ihnen geschieht.»[5] Für Klüger impliziert diese Analogisierung eine Abwertung der Juden, was noch durch einen direkten Vergleich Judiths mit der im amerikanischen Roman Huckleburry Finn auftauchenden Figur des entlaufenen Sklaven gesteigert wird, da dieser aus der Sicht der Schwarzen mit dem ,Dünkel weißer Herablas­sung’ in Verbindung gebracht wird.“[6] Wie der entlaufene Sklave Jim im amerikanischen Roman, so kann auch Judith als ,Fracht der Freiheit’ verstanden werden, „in einem Buch, das die Möglichkeit des Freiseins voraussetzt, aber eben für Nichtjuden, einschließlich dieses Jungen, der sie mit der amerikanischen Romanfigur gleichsetzt.»[7] Das Erreichen einer bestimmten Art von Freiheit und die Flucht in diese, ist so als zentra­les Handlungsfeld zu definieren, sowohl innerhalb des Romans im Allgemeinen, als auch bei dessen Darstellung der jüdischen Figur im Besonderen. Das Motiv der Suche nach Freiheit taucht mit leichten Variationen bei allen Figuren auf. Klügers Kritik richtet sich nicht Grundsätzlich gegen dieses Motiv, sondern dagegen, daß es quasi verschiedene Qualitäten erreicht, in Form von mangelnden Handlungsalternativen Judiths, die sich einerseits auf ihre charakterlicher Unreife gründet,[8] zum anderen aber auch durch äußerliche Einflüsse erzwungen ist. Letztendlich wurde dies zu einer diskriminierenden Darstellung der Juden führen.[9] Der Hinweis auf eine strapazierte Wiedergabe von Judiths Alternativlosigkeit, die vor allem aus ihrer charakterlichen Unsicherheit resultiert[10], erscheint mir unter dem vorherigem Gesichtspunkt durchaus angebracht. So wird selbst die Holzstatue von Helander als ein Gebrauchsgegenstand von größter Bedeutung dargestellt, der in der Kirche gebraucht werde, als er sie vor dem ,jungen Herrn Doktor’ zu schützen sucht.[11] Erst aufgrund dieser Bedeutung[12] der Figur sucht und findet Helander die Alternative selbst für diese Figur, indem er sich an den Fischer Knudsen wendet, der sie nach Schweden übersetzen soll. Damit in unmittelbarem Zusammenhang steht die Kritik Klügers[13] einer verdrehten Darstellung der Wirklichkeit, da die Ereignisse zwar immer innerhalb der ,,Grenzen der Wahrscheinlichkeit» lägen,[14] im Grunde jedoch eine Quasi-Wirklichkeit widerspiegelten und sich daher von der historischen Faktizität unterschieden.[15]

Wie bereits angedeutet, bildet der Fluchtgedanke (sei es in aktiver Form oder auch bei der Unterstützung zur Flucht), den Reinhold als ein Zeichen des Widerstands interpretiert,[16] innerhalb des Romans die zentrale Bedeutung. Die Figuren scheinen dabei eine Flucht auf verschiedenen Ebenen zu vollführen. Die Sichtbarste dieser Ebenen ist sicherlich die politisch motivierte Flucht. Ist es bei Judith die Furcht vor einer Inhaftierung durch die Nazis, die den Hintergrund für ihre Flucht bildet, so ist es bei Knudsen und Gregor die Enttäuschung über die Zersplitterung der KP, die ihren Entschluss festigt, entweder das Land zu verlassen, so bei Gregor, oder aus der politischen Aktivität zu ‚flüchten’, um sich fortan nur noch auf das eigene Überleben zu konzentrieren. Eine weitere Ebene der Handlungsmotivation bildet die Entwicklung und Ausgestaltung einer eigenen Verantwortung. Diese Ebene wird erst dann erreicht, wenn die politischen Ideale in den Hintergrund rücken und das persönliches Engagement in den Vordergrund des interesses tritt: ,,Sie beginnen ohne Auftrag zu handeln bzw. geben sich den Auftrag für ihr Handeln selbst. Und dieses Handeln wird durch einfache menschliche Motive, nicht mehr durch politische Einsichten oder weltanschauliche Bindungen ausgelöst.“[17] Erst durch diese Ebene der Handlungsmotivation ist es Gregor möglich, Judith bei ihrer Flucht zu unterstützen. Erst als die Figuren sich auf der persönliche Ebene entgegentreten, kann Gregor die Frage Judiths positiv beantworten, ob er auch dann bereit ist Judith zu helfen, wenn er nicht ohnehin die Holzfigur zu retten beabsichtigt hatte.

Die erste Begegnung auf der ,menschlichen› Ebene ist zwar noch von einer erotischen Atmosphäre geprägt,[18] doch zeigt Gregor in seiner späteren Auseinandersetzung mit Knudsen, daß es ihm nun in der Tat darum geht, Judith helfen zu wollen. Dies unterstreicht er dadurch, dass er dazu bereit ist, für die Rettung der Jüdin einen persönlichen Einsatz zu erbringen, indem er auf eine Mitfahrt nach Schweden verzichtet und so die eigene Sicherheit aufs Spiel setzt. Wie Gregor ist auch Knudsen erst dazu bereit die Jüdin auf seinem Boot mitzunehmen, als er sich darüber klar wird, dass die ,,Partei im Eimer ist“, ,,dann ist es besser wir machen solche Sachen, wie die, zu der er [Gregor] mich heut gezwungen hat, Sachen ohne die Partei, private Sachen.»[19]

Die Judendarstellung im ,,Sansibar“ ist ebenso auf ein Minimum, nämlich auf eine Figur beschränkt, wie auch ,,die Anderen» nur hintergründig erwähnt werden. Insofern findet eine aktive Konfrontation zwischen Nationalsozialismus und Juden nur in einem atmosphärischen Hintergrund statt und wird vom Leser so nur durch indirekte Weise wahrgenommen. Die Figurenkonstellation, in deren Mittelpunkt sich die Jüdin durch ihre Flucht nach Rerik begibt, entsteht durch den allen gemeinsamen Gedanken, in ein anderes Leben und eine andere Umgebung entfliehen zu wollen. Judith selber wird nach dem Verlust ihres bisher behüteten Lebens in eine für sie ungewohnte und fremde Lebenssituation hineinmanövriert, die durch die sie bedrohenden politischen Verhältnisse für sie doppelt schwer zu meistern ist. Unbeholfen versucht sie daher ein ums andere Mal vergeblich, ihre Flucht selber zu organisieren, was immer wieder dazu führt, dass sie sich der Hoffnungslosigkeit ihrer Situation bewusst wird. Erst als sie auf Gregor trifft, dessen Hilfsangebote sich von der politischen Ebene auf die rein menschliche Anteilnahme verschieben, können sich in die Zukunft weisende Strukturen innerhalb Judiths Leben ausbilden, die auf ihre persönliche Entscheidungsfreiheit hinweisen, nämlich die Wahlfreiheit zur Flucht nach Schweden.

Andersch beschreibt in diesem Werk eher hintergründig die Beziehung zwischen den Naziverbrechern und ihren Opfern, wobei diese Darstellung eher in einer Auseinander

Setzung Helander-Nazi als durch eine Verbindung Nazi-Judith hergestellt wird.[20] Insofern sehe ich auch eine spezifische Täter-Opfer-Beschreibung durch Andersch eher peripher angestrebt und geleistet. Eine indirekte Auseinandersetzung dieser Beziehung wird allenfalls über den im Vordergrund stehenden Gedanken der Flucht aus einer nicht mehr le­bensfähigen Atmosphäre erreicht, und in der Suche einer Neuorientierung außerhalb dieses politischen Einflussbereiches.

2.2 Die Judendarstellung in Anderschs Roman „Die Rote“

In Alfred Anderschs Roman ,,die Rote» wird, wie auch beim zuvor analysierten Roman, die explizite Judendarstellung weitestgehend ausgeklammert. Eine direkte Judendarstel­lung findet hier nur in einer einzigen Szene statt – nämlich in der Beschreibung des jüdi­schen Juweliers. Diese spärliche Präsenz der jüdischen figuren innerhalb seiner Romane, die Andersch auch innerhalb der Forschungsliteratur angelastet wurde,[21] vermag jedoch nicht darüber hinweg zu täuschen, dass gerade jene Figuren seine Romane entscheidend beeinflussen. So ist auch in ,,Die Rote“ die Begegnung der Protagonistin mit dem jüdischen Juwelier als eine Schlüsselszene zu bezeichnen, in der Andersch eine Entwicklung Franziskas einleitet, die in dieser Szene ,,durch die Konfrontation mit der deutschen Vergangenheit…lernt, Stellung zu beziehen“[22]

Liefert die Begegnung Franziskas mit Aldo Lopez bereits durch das ins Klischee passende Verhalten des Juden gegenüber der Deutschen genug Potential, um den historischen

Hintergrund des Romans (und dessen Thematisierung des Antisemitismus) abzustecken,

wird durch das darauffolgende Erscheinen des Nazis Kramer ein Beziehungsdreieck entfaltet, das neben dem Abhängigkeitsverhältnis (zwischen Aldo und Franziska) noch das rassistische Machtverhältnis in den Blickpunkt rückt.[23] Folgendes 3-Punkte-Schema lässt sich aus dieser Figuren- und Handlungskonfiguration ableiten.[24] 1. Es wird ein antijüdisches Stereotyp des Schachervorwurfes entworfen; 2. Der Deutsche Nazi bedroht den jüdischen Juwelier; 3. Franziska, als Nachgeborene, möchte die Schuld des Nazis rückgängig machen (indem sie dem Juwelier das durch Kramer erpresste Geld zurück gibt). In der Figur Kramers, der die klischeehaften Tugenden des deutschen, die Sauberkeit und Klarheit liebenden Beamten in sich vereint, erkennt Franziska ihren ,Todfeind’[25], der totgeschlagen werden muss ,,wie eine Ratte…“.[26] Neben diesem Ausdruck des Hasses mischt sich in ihre Gefühlslage ihm gegenüber sowohl Geringschätzung (,,….ach was, er ist nur noch eine Pappmaske mit rötlichen Augen und einem fetten Mund, wahrscheinlich ist er einfach alt geworden, ein alter Albino in einem alten grauen bösen Rokoko-Café“[27]). Aber auch ein Zug von Bewunderung und Anerkennung. Eine Bewunderung, die sich erst durch die offensichtliche Überlegenheit Kramers seiner Umgebung und vor allem ihr gegenüber entwickelt: ,,Einen Augenblick bewunderte sie die Schärfe der Konsequenzen, die er aus der Kenntnis ihrer Geschichte zog. Er weiß, dass ich erledigt bin, wenn ich meinen Ausbruch rückgängig mache, wenn ich zurückkehre,…“[28]

Auch Sigrid Weigel entdeckt zwischen den Figuren Kramers und Franziskas eine Be­ziehung, die sie zum einen in einer „Analogisierung einer NS-Konstellation mit einer Geschlechterbeziehung im Muster des Opfer-Täter-Pradigmas“[29] und in einer ,,mentalen Nähe“[30] zwischen beiden erkennt. Unter diesem Blickwinkel sind Parallelen zwischen den Figuren Franziskas und Kramers erkennbar, die sich auf einen gemeinsamen Traum beziehen, ,,den deutschen Traum um der Sauberkeit willen,…“ wie Franziska sagt.[31]Es ist ein Traum, auf den ihre überhastete Flucht aus ihrem bisher geordneten und erfolgreichen Leben hinweist; eine Flucht, die sie hinaus führt aus dem Schutze der Sauberkeit und durch die sie in den selben ,Schmutz’ Venedigs getrieben wird, den auch Kramer sich als Lebensgrundlage gewählt hat. Ihr Traum „vom großen deutschen Putztag jenseits von Gut und Böse“[32] klingt unter diesem Blickwinkel wie der Wunsch, sich jenseits der NS-­Vergangenheit ihrer Nationalität bewusst werden zu können (oder zu dürfen). Aus dieser Sicht wird auch die Nähe zu Kramer verständlich, da auch die Figur Franziskas von Andersch als typisches Kind ihrer Zeit und ihrer Nationalität konzipiert wird, als „Verkörperung einer für das westdeutsche Bewusstsein durchaus repräsentativen Gedächtnisfigur, der ein Begehren nach dem Nationalen in verborgener und entstellter Form eingeschrieben ist.“[33]

Die eindeutigste Charakterisierung seines Verhältnisses zu den Juden liefert Kramer durch die Beschreibung der eigenen Gleichgültigkeit. Gleichgültigkeit wird hier nicht nur auf der Ebene der Organisation, also innerhalb eines institutionellen Rahmens,[34] bei dem ein gewisses Maß an Anonymität gegenüber dem Subjekt zumindest rational ,Nachvollzieh­bar› wäre, sondern er steigert diese Gleichgültigkeit noch durch den Grund, dass er sie auf die menschliche Ebene transferiert, indem er sie aus einem persönlichen Erlebnis heraus schildert. Diese gleichgültige Haltung Kramers wird von Franziska bereits zuvor quasi intuitiv wahrgenommen und mit dem Motiv der „Verhörmaschine“[35] umschrieben. So ist die Auseinandersetzung Kramers mit dem Juwelier nicht etwa durch positive oder negative Emotionen oder auf der Grundlage eines Sinnens nach Gerechtigkeit motiviert, sondern geprägt durch absolute Zielgerichtetheit, die einzig den Zweck verfolgt, die ‚Sauberkeit’ und ,Ordnung’ wieder herzustellen, indem er den Juwelier nötigt, Franziska mehr Geld zu überlassen. Er selber analogisiert seinen Blickwinkel daraufhin mit dem Gottes und stellt damit einen Bezug zur Schöpfung Gottes her, die aus dieser Sicht jedoch geradezu auf den Kopf gestellt, nämlich entpersonalisiert und anonymisiert wird und daher zur Bedeutungslosigkeit verkommt. Nicht weniger Interessant ist eine weitere Analogisierung, in der Franziska die Mitglieder der NS-Organisation, in die auch Kramer eingegliedert ist, in einen Zusammenhang mit der Ästhetik bringt. Sie bezeichnet diese Mitglieder als „Mäzene für Morde“, als Männer, ,,die Gedichte und Morde zur gleichen Zeit finanzierten“.[36] Eine Parallele, die sich bereits in einem anderen Zusammenhang andeutet. Demnach habe Andersch, laut Sebald, bereits in ,Die Kirschen der Freiheit’, sich orientierend an Ernst Jünger, das Programm einer neuen Ästhetik entworfen, indem er eine Vision ,,einer neuen Sachlichkeit, einer Kunst, die ihr Prinzip in der Ästhetisierung der technischen Errungenschaften, in der Ästhetisierung der Politik bzw. des politischen Defätismus und letzten Endes, in der Ästhetisierung der Gewalt und des Krieges“ nachbildete.[37] Wie immer man zu dieser Interpretation Sebalds stehen mag, so deutet sich diese Parallele zumindest in der nachgewiesenen Stelle in ,,Die Rote“ an.

Die Darstellung der Juden in „Die Rote“ ist, wie die letzten Seiten zeigen, nicht unabhängig der Figur Kramers zu beurteilen. So weitet sich die Beziehung Franziska-Aldo sofort nachdem die jüdische Identität Aldos bekannt wird zu einem Beziehungsdreieck zwischen Franziska-Aldo-Kramer und in das Verhältnis der Macht und der Erniedrigung zwischen Juwelier und Franziska mischt sich die ethnizistisch geprägte Vorstellung des jüdischen Wucherers bzw. des ‚Schacherjuden’. Das Bild des Schacherjuden gewinnt für das Vertrauensverhältnis zwischen Franziska und Lopez an Bedeutung, da es bei Franziska vorhandene, mit Vorurteilen behaftete Erinnerungen ins Bewusstsein ruft, die sich auf die Figur Shylocks beziehen. Der Jude Lopez gewinnt mit dieser Assoziation Franziskas für sie an negativer ,Prägnanz’ und ,Griffigkeit’. Es sind klischeehafte Vorstellungen, die im historischen Kontext der Zeit um Shakespeare durchaus aufgelöst werden können.[38] Die Aussage Franziskas, sie hasse Shakespeare, wenn sie an Shylock denke, bezieht sich aus diesem Blickwinkel weniger auf den so eben praktizierten Betrug oder die damit entstandene menschliche Erniedrigung, sondern vielmehr darauf, wie Battafarano sagt, dass „sie als Deutsche nach Auschwitz mit Juden nicht mehr problemlos verkehren, weil sie nach Dachau Shakespeare nicht mehr unvoreingenommen lesen kann.“[39] Eben dieser Hinweis scheint mir Ausschlaggebend für die Begegnung dieser beiden Figuren. Franziskas Beziehung zum Juwelier gründet sich nicht auf die gegenwärtige Situation (in der sie durch ihn betrogen wurde, in der sie menschlich erniedrigt wurde usw.), sie ist ein Ausdruck der historischen Beziehung zwischen Juden und Deutschen. In der Art, wie Efraim sich über die Normalität, mit der ihm Anna begegnet und mit der sie ihn als Juden bezeichnet, erfreut und fasziniert zeigt, so sehr ist in „Die Rote“ die Beziehung Franziska­-Jude von der historischen Besonderheit und Außergewöhnlichkeit dieser Völker geprägt.

 

2.3. Die Judendarstellung in Anderschs Roman „Efraim“

In Anderschs Roman „Efraim“ findet, im Unterschied zu den beiden anderen Romanen, eine breite Auseinandersetzung mit dem Judentum statt. So ist nicht nur Efraim selber ein Jude, sondern er begegnet innerhalb des Romans immer wieder jüdischen Personen, die seine Gedanken und Reflexionen beeinflussen. Bei der Darstellung Efraims ist es vor allem eine These des Protagonisten, die sich wie ein roter Faden durch den gesamten Roman zieht und offenbar als Lebensmotto Efraims aufgefasst werden kann. Diese Lebensauf­fassung Efraims stieß innerhalb der Forschungsliteratur auf heftige Kritik, da man aus dieser Rückschlüsse und Bezüge zum Autor des Romans zu ziehen begann. Efraim äußert bereits am Anfang des Romans die Überzeugung, die Umstände der Judenvernichtung seien allein vor dem Hintergrund des Zufallprinzips zu betrachten: ,,Es ist ein purer Zufall, dass vor zwanzig Jahren jüdische Familien ausgerottet wurden, und nicht ganz andere Familien zwanzig Jahre früher oder späten, jetzt zum Beispiel.“[40]Mit dieser sich den ganzen Roman hindurchziehenden Reflexion über dieses Zufallsprinzip, die in einem ständigen Austausch mit anderen Figuren vollzogen wird, wird diese These zudem immer wieder aktualisiert. So etwa in der Begegnung mit der Figur des jüdischen Archivars zu Beginn des Romans, der, wie Efraim sogleich vermutet, unabhängig von ihm zum gleichen Ergebnis gelangt sei wie er, dass es nämlich ,,gleichgültig [sei], wo man lebt, was man tut, wer man ist», da sich ohnehin keine Gesetzmäßigkeiten, keine Strukturen erkennen lassen.[41] Dies scheint jedoch im Widerspruch zu einer späteren Aussage zu stehen, in der er sich darüber äußert, dass er „ein Jude blieb, auf den Deutschland verzichtet hatte“,[42] der sich quasi Heimatlos zwischen den Nationen bewegt, ohne dass er, wie etwa der Deutsche Goj, durch ein Heimatland gebraucht werde oder dieses selber brauche.[43] Eine weitere Reflexion seiner Zufallstheorie wird durch eine Bettlerin eingeleitet, die in einem unmittelbaren Zusammenhang mit seiner Anstellung als Journalist steht und, seiner eigenen Aussage zufolge, „einigen Einfluss auf das Ergebnis [s]einer Besprechung mit Keir“ hatte[44], die zu eben dieser Anstellung führte.[45] Im Zuge dieses Zusammentreffens und als Reaktion auf den glücklichen Ausgang des Gespräches mit Keir, trifft Efraim die eher undifferenziert dargestellte Unterscheidung zwischen dem „Glauben an das Schicksal“ und dem Aberglauben (dem er nach eigenem Bekunden anhängt), der seinerseits jedoch nur eine Heruntergekommene Form des Glaubens an das Schicksal“ darstelle.[46] Für ihn wird der Begriff der Fügung gleichzeitig mit dem Glauben an ein höheres Wesen eliminiert, da beides für ihn unter den Ereignissen des dritten Reiches unmöglich erscheint. Das Leben stellt sich für ihn nur noch in einem ,,wüste[n] durcheinander aus biologischen Funktionen und dem Spiel des Zufalls“ dar, dessen ,Sinnhaftigkeit’ für ihn, so meine Interpretation, nur noch innerhalb von Variationen der Intensität seiner Gefühlszustände erreicht wird.[47]

Eine leichte Veränderung erhält diese Sichtweise während seiner Jugendzeit durch den Einfluss seines ,Onkels’ Basil, dem jüdischen Vetter seines Vaters. In der Beziehung zu ihm erlebt Efraim eine Korrektur seiner ansonsten gleichgültigen Haltung der Welt und dem Leben gegenüber. So ist es Basil, der Efraim einst mit verlockenden und spannenden Geschichten über die jüdische Vergangenheit in seinen Bann gezogen hatte und ihm somit den Zugang zu einer Vergangenheit liefern konnte, von der er, Efraim, bisher nichts geahnt hatte und die ihn faszinierte. Zurückzuführen ist dies erwachende Interesse an der eigenen Identität darauf, dass es Basil nicht daran lag, „irgendjemand von irgendetwas überzeugen zu wollen“,[48] sondern daß Efraim in freier Entscheidung ein Stück seiner Selbstbewusstheit erhält, die er bisher nicht wahrgenommen hatte.

Dieser Einfluss vermag jedoch nicht seine grundsätzliche Haltung zu verändern, die sich letztendlich auch auf die Beziehung zu seiner geschiedenen Frau Meg und auf seine Bekanntschaft zur jugendlichen Anna auswirkt. Sein Zusammentreffen sowohl mit Anna als auch mit Meg ist aus seiner Sicht auf eine Kette glücklicher, wenn auch zufälliger Ereig­nisse zurückzuführen, deren Eintreten für ihn ebenso verwunderlich ist, wie die Tatsache seiner eigenen Existenz: „Wenn ich bedenke, wie absurd es ist, dass ich Deutscher war und danach Engländer wurde, während ich immer noch Jude bin, kommt es mir vor, als könnte ich ebenso gut Russe oder Massai-Neger oder ein Wolf oder ein Auto sein.“[49] Immer wieder gelangt Efraim zu dem Punkt, an dem sich seine eigene Überzeugung über die Zufälligkeit der Ereignisse mit Fragen der Judenverfolgung überschneiden. Und immer wieder gelangt er zu dem Schluss, dass sich eine Erklärung der Ereignisse für ihn nicht mit einer rationalen Beurteilung entzieht, sondern dass allein der Versuch ihrer Erklärung Gefahren in sich birgt: „Wer mir Auschwitz erklären will, der ist mir verdächtig.“[50]

Wie bereits zu Anfang angedeutet, stieß die Entwicklung dieses Zufallsmodells Efraims auf kritische Äußerungen innerhalb der Forschungsliteratur, die letztlich direkt auf den Autor des Romans zurückfielen. Für Klüger scheinen Fragen nach Ursachen, Wirkung und Folgen der Judenverfolgung von Anfang an durch den Umgang mit dem austauschbaren Begriffspaar ‚Schicksal und Zufall’ aufgeweicht, so dass für sie ein Erkenntnisgewinn nach kausalen Gesichtspunkten aus dieser Art der Aufarbeitung nicht stattfinden kann.[51] Zufall trete an die Stelle des Verbrechens, so dass weitere Erklärungsansätze und Versuche nicht nur wirkungslos bleiben müssten, sondern zudem vom Autor unerwünscht waren und daher ausgeschlossen blieben.[52] Der Kernpunkt Klügers Kritik weist auf den Vorwurf, dass Andersch sich zwar mit ,,oberflächliche[r] Gewissenhaftigkeit die Auseinandersetzung mit dem Holocaust zur Aufgabe macht“,[53] daß jedoch der Zufall an die Stelle des Verbrechens trete und der Leser damit entlastet sei, sich Intensiver mit diesen Ereignissen zu befassen.[54]

Einen anderen Standpunkt zum „Efraim“ nimmt Heidelberger-Leonard ein. Für sie steht nicht Efraim, sondern Esther im Mittelpunkt des Geschehens, die jedoch in Anderschs Darstellung auf ihren „funktionalen Wert“ reduziert werde.[55] Durch ihren Untergang werde Efraim in die Lage versetzt, sich mit den Juden zu identifizieren, „die nicht davonkamen.“[56] Heidelberger-Leonard sieht sowohl im Juden als auch im Menschen Efraim eine Figur, die sich allen Identitäten und Normen verweigere.[57] Das einzige Zugehörigkeitsempfinden zum Judentum wird für Efraim aus der Ermordung seiner Eltern gespeist. Aber auch dieses wird als ein „Zwang“ erlebt, der einzig aus einem Solidaritätsempfinden für die Opfer des Naziregimes resultiert.

Das von Efraim sorgsam gehütete Weltbild der zufälligen Ereignisse hat innerhalb des Romans zwei ‚Belastungsproben’ standzuhalten. Eine erste Erschütterung erfährt es durch den Gedanken Hornbostels, der die Judenvernichtung in den Zusammenhang rationaler Planung stellt. Für Efraim scheidet jedoch nach einer kurzen Irritation auch diese Möglichkeit aus, demzufolge hinter der Judenvernichtung ein Wille stecken könnte, da dies „wiederum zur Folge h[ä]tte, dass man irgendeine Erklärung dafür finden konnte. Jedoch gibt es keine Erklärung für Auschwitz.“[58]

Ein weiterer Stoß seines „großen systematischen Gedankengebäude[s] über den Zufall und das Chaos“ wird Efraim wenig später von Anna versetzt, indem sie darüber reflektiert, dass die von ihm als Gegensatz empfundenen Zustände von Zufall und Schicksal ebenso als identisch verstanden werden könnten. Dass die persönliche Hingabe in das Schicksal eine Gleichzeitigkeit von Schicksal und Zufall bedeuten könne.[59]

2.4 Die Judendarstellung in William Shakespeares Komödie „Der Kaufmann von Venedig“

Die klassische Judendarstellung findet durch die Figur Shylocks in Shakespeares „Kauf­mann von Venedig“ statt. Auf ihn verweist Franziska als sie durch Aldo Lopez betrogen wird und auf ihn richtet sie auch ihre Kritik des ,Wucherjuden’. Der Mythos des jüdischen Kaumanns, der ausschließlich darauf bedacht ist sein Kapital zu akkumulieren, findet in der Darstellung Shylocks seinen literarischen Ausgangspunkt. In unvergleichlicher Art und Weise wird von Shakespeare ein Konstrukt aus der überspitzten Darstellung einer literarischen Figur, einer durchaus sensiblen politischen Aussage und eines historischen Vorurteils nachgezeichnet.

Immer wieder wird innerhalb der Sekundärliteratur zum „Kaufmann von Venedig“ darauf verwiesen, dass die Darstellung des Juden Shylock verblüffende Analogien zur puritanischen Partei und zum Puritaner aufweist. Shakespeare habe mit der Figur Shylocks nicht nur den Juden, sondern auch den Puritaner darstellen wollen. Begründet wird diese Behauptung zum einen aus der verständlichen Antipathie, die Shakespeare gegenüber den Puritanern empfand, da diese Erlasse zur Schließung von Theatern aussprachen – galten diese für sie doch als „Stätte moralischer Greuel und sündiger Lustbarkeit“.[60] Zum anderen werden auch konkrete charakterliche Eigenschaften Shylocks als Indiz dafür gewertet, dass er für die Puritaner steht:

– Ein Hauptmerkmal des Juden ist die Duldsamkeit, egal wie stark er gequält und unterjocht wurde. „Jede andere Veraltensweise, wie Hass oder das Verlangen nach Rache, waren als lebensgefährlich zu unterdrücken.“[61] Shylock selber macht auf diesen Wesenszug des jüdischen Volkes aufmerksam, in dem er sagt: „Denn dulden ist das Erbteil unsers Starmms.“[62] Im Gegensatz dazu ist es jedoch die Rache, die in diesem Stück seine Handlungen motiviert, während die Demut erst gegen Ende, nachdem er die Ausweglosigkeit seiner Situation vor Augen hat, handlungsbestimmend wird.[63]

– Die Figur Shylock wird ungemein aktiv und geschäftig dargestellt. Diese Geschäftigkeit bezieht sich vor allem auf den ökonomischen Sektor. Shylock lässt das stete Bemühen erkennen sein Kapital zu akkumulieren, und seinen wirtschaftlichen Machtbereich zu sichern oder auszubauen. Für Müller stellt genau diese Aktivität eine untypische Verhal­tensweise des europäischen Judentums dar. Für ihn weist auch diese Art der Darstellung Shylocks daraufhin, dass Shakespeare im „Kaufmann von Venedig“ die Auflehnung der puritanischen Kräfte gegen die Privilegien der Adelspartei nachzeichnet.“[64]

Die wesentliche Brisanz der Shylockfigur ergibt sich für meine Betrachtungsweise aus sei­nem Umgang mit Geld und seine von Beginn an geplante Rache gegen den Christen Antonio. Historisch betrachtet ist sein Verhalten nicht als ungewöhnlich, sondern eher als stringent zu bezeichnen. Bereits zur Zeit der Kreuzzüge begann die Verdrängung der Juden aus dem Warenhandel und ihre darauffolgende Konzentration auf das Kreditgeschäft.[65] Die Verschärfung des Zinsgesetzes von Thomas von Aquin sorgte im 13. Jahrhundert dafür, dass dieser Sektor vollständig den Juden überlassen wurde, was die Trennung einer „christlichen von einer jüdischen Wirtschaftsmoral“ zur Folge hatte.[66] Hinzu kam der Wille, die Macht der jüdischen Geldleiher in den norditalienischen Städten brechen zu wollen, so dass die zinsfreie Vergabe von Krediten für Nichtjuden die Regel wurden. Im 15. Jahrhundert änderte sich dann das Kreditgeschäft der jüdischen Kaufleute, indem sie ihre Kredite nun nicht mehr an ganze Städte sondern an die Klientel der bürgerlichen Haushalte vergaben, was zunehmend zu Ressentiments gegen die Juden führte. Durch das Ausweichen auf die Kreditvergabe an bäuerlich-bürgerliche Haushalte, waren die jüdischen Kreditgeber nun zunehmend gezwungen, die für ihre Kredite als Sicherheit empfangenen Pfändereien zu verkaufen und es „beginnt die Zeit der völligen Erniedrigung, die das Bild der Juden festlegt als Kaftan-tragende, Münzen-zählende Wucherer und Pfandleiher – das Bild Shylocks und Ahasvers.“[67] Da es den Juden zudem nicht erlaubt war ihr Geld in Immobilien und Ländereien zu binden, war ihr Standort rein zweckgebunden auf die Akkumulation von Kapital angelegt, so dass auch ihre Einbindung in das kulturelle und gesellschaftliche Leben der Umgebung sich auf ein Minimum beschränkte.[68] Dies wird auch innerhalb des Stückes am Verhalten Shylocks deutlich, als er seine Tochter Jessica ausführlich darauf hinweist, dass sie eben nicht an der ,,albern Geckerei“ der Christen teilnehmen und statt dessen das Haus verschlossen halten soll.[69] Die französische Revolution sorgte im weiteren Verlauf der Geschichte für den Verlust von Privilegien auf Seiten des Adels und des Klerus. Es ist die Geburtsstunde einer Verschwörungstheorie, in deren Mittelpunkt die Freimaurer und mit ihnen die Juden als Drahtzieher der Revolution vermutet wurden.[70] Unterstützend für diesen Verschwörungsgedanken wirkte die Undurchschaubarkeit der jüdischen Finanzverhältnisse. ,,Die Unsichtbarkeit der Kapitalisten hinter dem Kapital ruft geradezu nach einer mythischen Physiognomie, und das ist dann wieder der Ewige Jude.“[71] Für Schwanitz ergibt sich aus dem Verhalten der Kirche Ende des 18. Jahrhunderts eine unübersehbare Ähnlichkeit in Bezug auf ihre antisemitische Einstellung, zum Faschismus: „Privat asketisch, sozial auf der Ebene des niederen Klerus, beseelt von ihrem Sendungsbewusstsein und besessen von einer apokalyptischen Paranoia und dämonologischen Phantasie, werden sie nicht zuletzt wegen ihres sozialen Engagement für die Deklassierten zu außerordentlich populären Demagogen mit katastrophalen Folgen für die Juden.“[72]

Die Problematik um den erhobenen Zins ist nach Auffassung Schwanitz› auf ein soziologisches Problem zurückzuführen. So gehe es letztendlich um die nicht stattgefundene Integration einer ethnischen Gruppe in die Allgemeinheit. Die Kreditgewährung an Christen, die mit der Rückforderung von Zinsen verbunden ist laufe demnach auf ein mangelndes Integrationsgefühl der Juden hinaus. Unter dieser Perspektive wird es auch nachvollziehbar, dass Christen untereinander von der Erhebung eines Zinses absahen, da sie sich innerhalb einer „Gemeinschaft von Brüdern“ bewegten. Aus der Umgebung einer solchen Brüdergemeinschaft sei auch das faschistische Engagement gegen die Juden zu bewerten, ,,die eine Reaktionsbildung gegen eine moderne Gesellschaft von Fremden war, deren Belastungen man nicht aushalten konnte.“[73] Das Zinsproblem weist in die Richtung eines aus der Not heraus entstandenen Konzeptes für die Errichtung eines modernen Staates, dass innerhalb der Gemeinschaft als etwas fremdes begriffen wird. So werden die Juden als Repräsentanten einer gefürchteten Modernisierung begriffen, denen der Adel und der Klerus zum Opfer fallen werden.[74]

3. Vermischung von Opfer-Täter-Paradigma und dem Geschlechterdiskurs

Nachdem die bisherige Analyse einiger Werke Anderschs die Fragestellung nach der Darstellung einer expliziten Opfer-Täter-Beziehung ausklammerte, bisher wurde eher ein großflächigerer Abriss der Judendarstellung in Anderschs Werken gegeben, so werde ich mich im folgenden auf die Darstellung und den Gehalt dieser Beziehung konzentrieren. Ich möchte mich dabei auf Sigrid Weigel beziehen, die diese spezifische Beziehung zwischen Opfer und Täter in einen Zusammenhang mit dem Geschlechterdiskurs bringt. Den Ausgangspunkt bildet für sie die historisch außergewöhnliche Situation in der sich Deutschland befindet und dessen daraus sich entwickelnde Schwierigkeit bei der Gründung und Entwicklung einer modernen Nation. Grundlegend für diese Entwicklung sei sowohl die gemeinsame Erinnerung als auch das gemeinsame Vergessen der Ereignisse während des Nationalsozialismus – insofern werde sie konstituiert durch ein gemeinsames Gedächtnis an das Dritte Reich.[75] Die Gründung der deutschen Nation basiert, nach Weigel auf zwei Paradigmen, die „ihre Spuren im psychischen Apparat hinterlassen haben, im Sinne einer Blockade also zwischen Bewusstsein und Unbewusstem.“[76] Zum einen würde sich das Nachkriegsdeutschland aus der paradoxen Situation entwickeln, dass es aus zwei unterschiedlichen und z.T. entgegengesetzten Varianten von Willensakten entstanden ist, die sich aus der Zuordnung zu zwei unterschiedlichen politischen Interessenslagern ergibt. Zum anderen trage die deutsche Nation Spuren eines negativen Ursprungs, der sich über den Umweg der rassistischen Konstituierung des ,Dritten Reiches’ ergebe.[77] Aus diesen Ursprüngen heraus ergeben sich für Weigel die Probleme der deutschen Nachkriegsgeborenen, die als deren spezifische Gedächtnisform interpretiert werden müsse. In diesen Mustern sieht sie auch die neuerlichen rechtsextremistischen Tendenzen in Deutschland begründet, die als eine Öffnung dieser Blockade zu verstehen seien, „durch die jene im Unbewussten fortwirkenden, an völkische Bilder gebundenen Vorstellungen artikuliert werden bzw. zur Sprache kommen, mit denen der Nazismus in die Gegenwart hineinreicht.“[78]

In einer psychoanalytischer Lesart werden die Muster des „kollektiven Gedächtnisses“[79] nun in ein anderes Feld verschoben und in entstellter Form zur Darstellung gebracht, nämlich innerhalb des literarischen Diskurses.

Ein besonderes Merkmal der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus sieht Weigel in dessen Erscheinungsbild nach der Wiedervereinigung beider deutscher Staaten. Sich zwischen Ost und West im Widerspruch befindende und z. T. komplementäre Vorstellungen über die Zeit nach 1945 werden demnach mit den Ereignisse des Jahres 1989 überblendet und innerhalb eines Opfer-Täter-Paradigmas zur Auflösung gebracht.[80]

Die Darstellung des Opfer-Täter-Schemas fungiert dabei als genereller Schnittpunkt unterschiedlicher, nach 1945 in Erscheinung tretenden Gedächtnisformen. Werde das ,antifaschistische’ Gedächtnis vorwiegend durch ein männlich-dominant wirkendes Geschichtsbild präsentiert, sei dass ,kollektive’ oder auch ,literarische’ Gedächtnis meist unter familialen oder dem Geschlechterdiskurs entstammenden Gesichtspunkten beschrieben.[81] Hierbei werde die Vätergeneration kollektiv als Täter gesehen und die

Söhne ebenso einhellig als Opfer dargestellt, „während die Frauen, die unter dem Topos ‚frauen im Faschismus’ zunächst schlicht als Gattungswesen und erst später ebenfalls

familial als Mütter und Töchter markiert wurden, die Positionen im Feld der gespaltenen, sexualisierten Bilder einer Opfer-Täter-Dichotomie wechseln“.[82] Mit diesem Rundumschlag, so die Kritik Weigels, werde eine Opposition geschaffen, die den gemeinsamen Schuldzusammenhang beider Generationen außer Acht lasse und die „diesen Zusammen-hang konstituierenden Möglichkeitsbedingungen“ ausschalte.[83]

Weigel wendet sich nun gegen eine Überkreuzung von Begriffen und Bildern aus der Geschlechterdiskussion und dem Opfer-Täter-Paradigma, da hierdurch historische Ereig­nisse auf einer anderen Ebene und quasi verschleiert mit dargestellt und dadurch ethnozentrische Deutungen provoziert werden.[84] Aus dem Geschlechterdiskurs in Erscheinung tretende Probleme werden dadurch mit ethnischen Vorstellungen synchronisiert und dadurch in einen Zusammenhang gebracht. Hierdurch werden zwar rassistische Begriffe vordergründig ausgespart, zugleich werden aber im Verborgenen Verschiebungen des ethnologie-Begriffes eingeleitet.[85]

Auffallend deutlich ergibt sich nach Weigel die dargestellte Beziehung in Andersch Roman ,,Die Rote“, bei dem die Figuren Franziska und Kramer den peripheren Zusammenhang des Romans bilden und darüber hinaus eine Analogiebeziehung zwischen O’Malley und Franziska aufgebaut wird, die gemeinsam als Opfer in Erscheinung treten. So werde die Darstellung O’Malleys als Opfer mit dem Erscheinen des NS-Täters in einen Schnittpunkt mit der Figur Franziskas gerückt, die kurz zuvor aus einer Abhängigkeit von ihrem Ehemann geflüchtet ist, der in diesem Sinne ebenfalls als Täter, nämlich innerhalb des Geschlechterdiskurses, zu betrachten sei.[86] In diesem Figuren-Viereck deutet sich die zuvor dargestellte und von Weigel kritisierte Analogiesierung zweier Diskurse an, die nicht nur nebeneinandergestellt, sondern übereinandergeblendet werden und dadurch „wechselseitige Bedeutungszuweisungen“ erhalten.[87] Inhaltliche Differenzen werden damit übergangen und Diskurse zweier Ebenen auf eine Stufe gestellt. Werden innerhalb der Beziehung Franziska-Joachim durch ihre Flucht zur Auflösung gebrachte Abhängigkeiten entdeckt, so werden diese durch eine solche, zuvor dargestellte Übertragung mit in das Beziehungsgefüge O´Malley-Kramer integriert. Neben den O´Malley treibenden Gedanken der Rachsucht scheint als Handlungsmotivation für O´Malley nun auch ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen ihm und dem Nazi zu entstehen, das sich über das Maß einer evidenten Abhängigkeit zwischen Opfer und Täter erhebt. Durch eine solche Darstellung wird, so die Kritik Weigels, eine Universalisierung vorgenommen, die dem Nazismus jede Spezifik nehme.[88] Der Nazismus wird so in eine Beziehungskonstellation verschoben, wie sie der Geschlechterdiskurs thematisiert, so dass die spezifischen und strukturellen Machtverhältnisse dieses Terrorregimes ausgeblendet werden.

In der Dreier-Beziehung zwischen Kramer-Franziska-Juwelier wird nach der Auffassung Weigels diese Verknüpfung zwischen dem Opfer-Täter-Paradigma und dem Geschlechterdiskurs in subtilster Form ein weiteres Mal hergestellt.[89] Auch diese Szene mündet in der Entwicklung einer familialen Beziehung, in der der Juwelier Franziska als ,seine Tochter’ interpretiert. Es sei somit als „Wunscherfüllung“ Franziskas einzuschätzen, dass der Juwelier als jüdisches Familienmitglied an die Stelle des deutschen Täter-Vaters trete.[90]

Obgleich Weigel sich darauf beschränkt ihre Kritik auf diesen einen Roman Anderschs zu richten, ließe sich eine ähnliche Kritik ohne weiteres auch auf andere in diese Analyse einbezogenen Romane ausweiten. Bei „Efraim“ ließe sich dies auf die Figur Esthers beziehen. Als jüdisches Kind, dass wahrscheinlich dem Naziterror zum Opfer gefallen ist, wird auch ihr eine Figur wie Keir gegenübergestellt, der zu ihr in einem verwandtschaftlichen Verhältnis steht und zugleich die Täterrolle repräsentiert, in Analogie zu „Die Rote“ also auch die Figur des Täter-Vaters darstellt. Gleichermaßen wird uns auch Judith als hilfloses Wesen präsentiert, die in Gregor einen heldenhaften Retter gefunden hat. Auch in „Sansibar“ wird also die jüdische Figur in einem Abhängigkeitsverhältnis dargestellt, die auf die Hilfe des Deutschen angewiesen ist, der sich hier jedoch selber gegen das Regime auflehnt. Die Romane stellen insofern ein ähnliches Muster bereit, in denen Machtverhältnisse (im Sinne der spezifischen Täter-Opfer-Beziehung des Nazideutschlands) und (persönliche) Abhängigkeitsverhältnisse synonym verwendet werden, ohne dass bei dieser Darstellung der Machtverhältnisse auf strukturelle Eigenarten und Besonderheiten des Faschismus eingegangen wird. Es ist insofern nicht verwunderlich, dass sich in diesem Zusammenhang Stimmen finden, die in dieser Art der Judendarstellung einen versteckten Antisemitismus entdecken. Die Begründung dieser These wird dabei oftmals nicht nur werkimmanent geführt, sondern es werden darüber hinaus auch biographische Anhaltspunkte Anderschs sowie Aufzeichnungen und Dokument aus seinem privaten Bereich herangezogen. Heidelberger-­Leonard bezieht sich dabei auf die Aussage Franziskas, in der diese sich negativ über die Shylock-Figur äußert und sieht hierin entweder „Antisemitismus in Purform oder… eine .. maßlose literarische Ungeschicklichkeit.“[91] Bei Sebald wird die Kritik noch wesentlich unsensibler zum Ausdruck gebracht. Ihr Beitrag stützt sich im Gegensatz zu dem Heidelberger-Leonards weniger auf eine werkimmanente, als vielmehr auf eine der Biographie Anderschs entnommene und eher in den Bereich der Spekulation fallende Kritik. Sie interpretiert dabei die erst spät eingeleitete Desertion Anderschs als einen „gewissen Grad opportunistischer Identifikation mit dem erfolgreichen Regime“.[92] Die Zeit seiner ‚inneren Emigration’, in die ihn seine zweite Inhaftierung durch die Nationalsozialisten führt und aus der er in die Welt der Ästhetik flieht, sieht sie als einen „ihn zutiefst kompromittierende[n] Prozess der Angleichung an die herrschenden Verhältnisse.“[93]

Äußerste Vorbehalte gegen eine in dieser Art geführten Debatte über eine mögliche antisemitische Gesinnung Anderschs bringt Battafarano in seinem Aufsatz zum Ausdruck. Es steht für ihn außer Frage, dass Andersch bemüht ist innerhalb seiner Werke das „giftträufelnde Erbe des Hitlerfaschismus [zu] thematisieren und an[zu]prangern.“[94] Statt dessen spricht er sich vehement dafür aus, dass die Biographie eines Autors nicht ohne weiteres in eine direkte Interpretation seiner Werke einbezogen werden könne, da hierdurch die Biographie mit der Ästhetik vermischt werde, was analytisch keine nennenswerten Erkenntnisse über die Werke liefere.[95] Zudem hält Battafarano auch die biographischen Zeugnisse für zu vage, um daraus eine gesicherte Aussage über eine antisemitische Tendenz bei Andersch treffen zu können.[96]

4. Die These der Wiedergutmachungsphantasie

Zum Abschluss der Analyse möchte ich mich nun einem anderen Gedanken zuwenden, der in der Forschungsliteratur mehrfach zur Sprache gebracht wird.[97] Am deutlichsten thematisiert Ruth Klüger dieses Phänomen, dass sie in allen 3 Romanen wiederentdeckt und als ,Wiedergutmachungsphantasie’ bezeichnet. Klüger kennzeichnet damit den auffallend positiven Umgang der deutschen Figuren mit den in den Romanen auftauchenden Juden. Diese außergewöhnlich gute Behandlung der Juden, die in selbstverständlichster Form vollzogen wird, steht dabei im Widerspruch zur Realität und verfällt damit zum Kitsch, da Andersch dem Leser damit die fiktionale Darstellung der Ereignisse als Wirklichkeit präsentiert.[98]

Im ,,Sansibar“ lokalisiert Klüger diesen Aspekt in der Ausgestaltung des jüdischen Mädchens Judith. Da sich ihr Auftreten in keinster Weise von dem der anderen Figuren unterscheide, werde die Gefahr in der sich die Jüdin befände in den Hintergrund gedrängt.[99] Die Möglichkeit von Repressalien trete zwar als nicht ausgeschlossen in Erscheinung, beziehe sich dann jedoch nicht auf die Judenverfolgung, sondern auf die Arbeit der im Untergrund agierenden Kommunisten. Dem Leser werde hingegen durch das beharrliche Verdecken der Naziverbrecher, durch den Gebrauch von Synonymen wie ,die Anderen’, und ihrer Verbrechen innerhalb dieses fiktionalen Szenarios dauerhaft die Möglichkeit eröffnet, sich mit den Helden des Romans zu identifizieren.[100] Klüger vermisst bei dieser Art der „Vergangenheitsbewältigung“, die sie im Grunde innerhalb der literarischen Auseinandersetzung für zulässig hält, „die ironische Distanzierung“ des Autors, in dem er sein „Spiel der geheimen Wunscherfüllung“ offenbare.[101]

Wie bei „Sansibar“ richtet Klüger ihre Kritik auch bei „Efraim“ darauf, dass auf die Judenverfolgung, sowohl hintergründig allgegenwärtig, nicht explizit genug eingegangen und hingewiesen wird. Efraims stetiger Verweis auf das Zufallsprinzip biete dem Leser statt dessen die einfache Möglichkeit sich dem Thema des Holocaust problemlos zu entziehen.[102]

Obwohl sich die Judendarstellung im Roman „Die Rote“ auf eine einzige Figur beschränkt, tritt hier der Wiedergutmachungsgedanke durch die Figur Franziskas noch am deutlichsten in Erscheinung. Weigel sieht die Rückgabe des Geldes an den Juwelier als einen schuldbesetzten Wiedergutmachungsversuch durch die Nachgeborene, in dem eine Mischung aus „Änerkennungsbegehren“ und „Schuldangst“ zu dem Wunsch führt, „von den Juden, den Opfern der Väter, angenommen zu werden.“[103]

Der Wiedergutmachungsgedanke, so habe ich den Eindruck, wird von Klüger bei den jeweiligen Werken Anderschs unterschiedlich definiert und analysiert. Interpretiert ihn Klüger bei Franziska als den Willen nach einer Entschädigung für begangenes Unrecht, so sieht sie ihn bei den anderen beiden Romanen Anderschs offenbar darin, dass die Naziverbrechen zum einen, sowohl hintergründig thematisiert, in der expliziten Darstellung ausgespart bleiben und zum anderen, dass sowohl die Leser, durch eine Identifikationsmöglichkeit mit den Helden des Romans, als auch der Autor, durch die Positionierung der Protagonisten in diese Situation, eine persönliche Aufarbeitung der Vergangenheit vollziehen können (oder sollen). Ob diese Interpretation jedoch in die Definition eines Wiedergutmachungsgedankens einzuordnen ist, scheint mir allerdings fraglich.

 

5. Schlussbemerkung

Bei den in diese Analyse einbezogenen Werken Anderschs ist das Bemühen um eine Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit durchaus erkennbar, auch wenn sie z.T. nur als Hintergrundschauplatz in Erscheinung tritt. Ob dies jetzt aus dem Interesse einer persönlichen Aufarbeitung der eigenen Konfrontation mit diesem Regime, bei dem die literarische Betätigung eine Art Ventil seiner aufgestauten Emotionen darstellt, oder aber aufgrund seiner politischen Überzeugung heraus geschieht, ist schwer zu beantworten – es ist jedoch zu vermuten, dass beide Gründe einen Anteil an seiner schriftstellerischen Tätigkeit haben.

In Bezug auf meine eingangs gestellte Frage nach einer spezifischen Opfer-Täter-Beziehung würde ich die Einschätzung treffen, dass in den Romanen durchaus eine bestimmte Art von Beziehung zwischen den dem „Tätertypus“ und dem „Opfertypus“ zuzuordnenden Figuren geschaffen wird, diese sich allerdings nicht auf irgendwelche, allen gemeinsamen Merkmale stützt. Ist die Beziehung zwischen Franziska und Kramer auf ein Abhängigkeitsverhältnis aufgebaut, das Weigel zufolge durch eine Analogisierung des Geschlechterverhältnisses zwischen Franziska und Joachim konstruiert wird, so wird bei ,,Sansibar“ die Hilflosigkeit des jüdischen Mädchens in den Vordergrund gestellt, die durch den heldenhaften Protagonisten gerettet wird. Bei „Efraim“ scheint sich hingegen die Beziehung zwischen dem Juden und dem Nazi in Efraims Überzeugung des Zufallsprinzips aufzulösen, das im Grunde nur einen Ausdruck seiner völligen Hoffnungslosigkeit darzustellen scheint.

Die Judendarstellung in den analysierten Romanen ist, so meine abschließende Einschätzung, sehr heterogen. Steht sie im „Sansibar“ im Kontext eines Fluchtgedankens in die Freiheit, der zudem erst durch die Entwicklung der eigenen Verantwortung ermöglicht wird, so wird der Jude in „Die Rote“ in einer direkten Beziehungskonstellation zwischen dem Nazi und der deutschen Nachgeborenen dargestellt. Im „Efraim“ ist die Judendarstellung mit einem ideologischen Gedankenmodell verbunden, durch das sich der Protagonist einer eindeutigen Stellungnahme entzieht. Auf der Grundlage eines höheren Abstraktionsgrades findet in den Werken eine Überkreuzung zweier Darstellungsebenen statt. Auf der einen Seite steht das Machtverhältnis im Kontext des Nationalsozialismus und auf der anderen Seite das dem Geschlechterdiskurs entnommene und auf der privaten Ebene anzusiedelnde Abhängigkeitsverhältnis der Figuren.

 

Literaturverzeichnis

– Andersch, Alfred: Efraim Zürich 967.

– Andersch, Alfred: Sansibar oder der letzte Grund. Zürich 1970.

– Andersch, Alfred: Die Rote. Zürich 1974.

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– Reinhold, Ursula: Alfred Andersch. Politisches Engagement und literarische Wirksamkeit. Berlin 1988.

– Schwanitz, Dietrich: Shylock. Von Shakespeare bis zum Nürnberger Prozess. Mit einem Abdruck von Shylock’s Revenge by David Henry Wilson. Hamburg 1989.

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– Weigel, Sigrid: Zur nationalen Funktion des Geschlechterdiskurses im Gedächtnis des

Nationalsozialismus. In: Zwischen Traum und Trauma – die Nation. Tübingen 1994, S. 27- 37.

[1] Ich habe mich entschlossen, auch auf die im ,,Kaufmann von Venedig“ dargestellte Shylockfigur einzugehen, da zum einen die Protagonistin in ,,Die Rote» explizit auf diese Figur eingeht und weil sie innerhalb der Antisemitismusdebatte (vgl. Abschnitt 3., S. 17) oftmals, wenn auch implizit, als Vergleich zu Anderschs Juden herangezogen wirdDarüber hinaus ergibt sich hieraus für mich die Gelegenheit, auf einige Vorurteile einzugehen, die mit dieser Figur oftmals verbunden werden (vgl. Abschnitt 2.4., S. 14).

 

[2] Weigel, Sigrid: Zur nationalen Funktion des Geschlechterdiskurses im Gedächtnis des Nationalsozialismus. In Zwischen Traum und Trauma – die Nation. Tübingen 1994, 8. 27-37, hier S. 30.

 

[3] Jendricke, Bernhard: Alfred Andersch. Hamburg  1988. S. 85

 

[4] Reinhol, Ursula: Alfred Andersch. Politisches Engagement und literarische Wirksamkeit. Berlin 1988, S. 130

 

[5] Klüger, Ruth: Gibt es ein ,,Judenproblem“ in der deutschen Nachkriegsliteratur? In: Klüger, Ruth:

katastrophen. Über deutsche Literatur. Göttingen 1994, S. 9-39. hier S. 14.

 

[6] Klüger. Rath (1994), S. 15.

 

[7] Klüger. Rath (1994), S. 15.

 

[8] Klüger bezieht sich hier auf ihren ungeschickten Umgang mit der Besatzung des schwedischen Fischerbootes, durch die ihr die Flucht und darauf die Freiheit verwehrt bleiben.

 

[9] Vgl. Klüger, Ruth (1994), S. 14.

 

[10] Auffallend häufig wird innerhalb des Romans vom ,jungen Mädchen› gesprochen oder auf ihr unsicheres Verhalten hingewiesen. Andererseits darf man nicht aus den Augen verlieren, dass Judiths Mutter vor wenigen Tagen verstorben ist und Judith sich seitdem einer drohenden Inhaftierung durch die Nazis ausgesetzt sieht

 

[11] Vgl. Andersch, Alfred: Sansibar oder der letzte Grund. Zürich 1970, S. 27.

 

[12] So sagt Gregor: ,,So wertvoll, bemerkte er spöttisch, daß sie die Chance haben, von diesem [gemeint ist die Holzfigur] mitgenommen zu werden. Als Draufgabe sozusagen. Er ist nämlich Mächtiger als Sie Ifranziska]“. Andersch, Alfred (1970), S.104.

 

[13] Sie richtet sich gegen die Darstellung der mangelnden Hilfeleistungen der schwedischen Besatzung

gegenüber Judith.

 

[14] Klüger, Ruth (1994), S. 15.

 

[15] Ausgangspunkt für diese Art der Darstellung ist sicherlich nicht zuletzt in Anderschs Verständnis des historischen Romans zu sehen. Für Andersch ist der historische Roman nicht unbedingt verbunden mit der reinen Darstellung historischer Ereignisse, sondern er weist in die Richtung einer Aufzählung von Möglichkeitsbildern der Ereignisse, die jedoch als Fiktion gekennzeichnet sind. Besonders deutlich wird dies in seinem Roman ,,Winterspelt“ in dem er zu Beginn darauf hinweist, dass die einzige Möglichkeit, diesen Bericht anzufertigen, darin besteht, die Form der Fiktion zu wählen (vgl. Andersch, Alfred: Winterspelt. Zürich 1977. S. 21). Wie der Roman beweist, bedeutet diese fiktive Form des historischen Romans bei Andersch nicht die Auswahl einer frei erfundenen Handlung, sondern eben den Versuch, aus den historischen Ereignissen die hieraus sich ableitenden Möglichkeiten zu ergründen.

 

[16] Vgl. Reinhold, Ursula (1988), S. 122ff.

 

[17] Rainhold, Ursula (1988), S. 131.

 

[18] Vgl. Andersch, Alfred (197O), S. 104ff.

 

[19] Andersch, Alfred (197O), S. 131

 

[20] Eine Ausnahme ist allenfalls in der Wirtshausszene zu sehen, in der Andersch recht offensiv auf die Diskriminierung Judiths eingeht.

 

[21] Weigel, Sigrid (1994), S. 34.

 

[22] Battafarano, Italo Michele: Zwischen Kitsch und Selbstsucht – und auch noch Spuren von Antisemitismus? Marginalia zu Alfred Andersch: Eine Forschungskontroverse Sebald, Heidelberger-Leonard und Weigel betreffend. In: Morgen-Glantz 4 (1994), S. 241-257, hier S. 255.

 

[23] In dieser Beziehungskonstellation erscheint sodann der in der Forschungsliteratur häufig angesprochene Aspekt der Wiedergutmachungsphantasie der Deutschen, auf den ich später noch ausführlich eingehen werde. Vgl. Kap. 4, S . 22.

 

[24] Battatarano, Italo Michele (1994), S. 254.

 

[25] Vgl. Andersch Alfred: Die Rote. Zürich 1974, S. 22.

 

[26] Vgl. Andersch, Alfred (1974), 5.194.

 

[27] Andersch, Alfred (1974), S.190.

 

[28] Andersch, Alfred (1974), S.196.

 

[29] Vgl. hierzu Kap. 3, S. 17.

 

[30] Vgl. Weigel, Sigrid (1994), S. 35.

 

[31] Andersch Alfred (1974), S. 191.

 

[32] Andersch, Alfred (1974), S. 192.

 

[33] Weigel, Sigrid (1994), S. 36.

 

[34] Insofern ist seine Begründung nicht nur auf seine Zugehörigkeit zu einem totalitären Machtapparat, dem er durch Befehlsgehorsam verpflichtet ist, bezogen.

 

[35] Vgl. Andersch, Alfred (1974), S. 183.

 

[36] Andersch. Alfred (1974), S. 188.

 

[37] Sebald, W. G.: Between the devil and the deep blue sea. Alfred Andersch. Das Venschwinden in der Vorsehung. In: Lettre International 20 (Frühjahr 1993), S. 80-84, hier S 83.

 

[38] Vgl. Kap. 2.4, S. 14.

 

[39] Battafarano, Italo Michele (1994), S. 252.

 

[40] Andersch, Alfred: Efraim. Zürich 1967, S. 49f.

 

[41] Andersch, Alfred, (1967), S. 75.

 

[42] Andersch, Alfred, (1967), S. 184.

 

[43] Vgl. Andersch, Alfred, (1967), S. 183f.

 

[44] So hatte die Bettlerin ihn gesegnet, nachdem er ihr während des Krieges seine Essensration überlassen hatte.

 

[45] Andersch, Alfred, (1967), S. 89.

 

[46] Andersch, Alfred, (1967), S. 89.

 

[47] Andersch, Alfred, (1967), S. 90.

 

[48] Andersch, Alfred, (1967), S. 125.

 

[49] Andersch, Alfred, (1967), S. 179.

 

[50] Andersch, Alfred, (1967), S. 230.

 

[51] Klüger, Ruth (1994), S. 20.

 

[52] Vgl. Klüger, Ruth (1994), S. 21.

 

[53] Klüger, Ruth (1994), S. 18.

 

[54] Vgl. Klüger, Ruth (1994), S. 21.

 

[55] Heidelberger-Leonard, Irene: Alfred Andersch: Die ästhetische Position als politisches Gewissen. Zu den Wechselbeziehungen zwischen Kunst und Wirklichkeit in den Romanen. Frankfurt/M. / Bern / New York, 1986, S. 167.

 

[56] Heidelberger-Leonard, Irene, (1986), S. 167.

 

[57] Vgl. Heidelberger-Leonard, Irene, (1986), S. 168.

 

[58] Andersch, Alfred, (1967), S. 229.

 

[59] Andersch, Alfred, (1967), S. 334.

 

[60] Schwanitz, Dietrich: Shylock. Von Shakespeare bis zum Nürnberger Prozess. Mit einem Abdruck von

Shylock´s Revenge by David Henry Wilson. Hamburg 1989, S. 41.

 

[61] Müller, André: Meint Shylock einen Juden? Oder: Die Rückgewinnung einer Komödie. In: Sinn und Form, 30 Jg., 1978, S. 143-170, hier S. 153.

 

[62] Shakespear, William: Der Kaufmann von Venedig. Stuttgart, 1964, S. 17.

 

[63] Vgl. Müller, André, (1978), S. 153ff.

 

[64] Vgl. Müller, André, (1978), S. 155.

 

[65] Vgl. Schwanitz, Dietrich (1989), S. 42.

 

[66] Vgl. Schwanitz, Dietrich (1989), S. 42.

 

[67] Schwanitz, Dietrich (1989), S. 43.

 

[68] Vgl. Greenblatt, Stephen: Marlowe, Marx und Antisemitismus. In: Christopher Marlowe / Fried, Erich: Der Jude von Malta. Berlin 1990, S. 129. Zit. nach Katz, Jacob: Tradition and Crisis: Jewish Society at the End of the Middle Ages. New York 1971, S. 47.

 

[69] Vgl. Shakespear, William (1964), S. 31.

 

[70] Vgl. Schwanitz, Dietrich (1989), S. 44f.

 

[71] Schwanitz, Dietrich (1989), S. 47.

 

[72] Schwanitz, Dietrich (1989), S. 50.

 

[73] Schwanitz, Dietrich (1989), S. 55.

 

[74] Vgl. Schwanitz, Dietrich (1989), S. 45.

 

[75] Vgl. Weigel, Sigrid (1994), S. 27.

 

[76] Weigel, Sigrid (1994), S. 29.

 

[77] Vgl. Weigel, Sigrid (1994), S. 28.

 

[78] Weigel, Sigrid (1994), S. 29.

 

[79] Weigel, Sigrid (1994), S. 29.

 

[80] In Ostdeutschland bedeute dies, dass die Opfer der Arbeiterbewegung vor die Opfer der Judenvernichtung

gestellt und als Helden des Antifaschismus gefeiert würden, die Täter hingegen im Westen lokalisiert würden. In der BRD würde hingegen eine dauernde Tendenz zur Identifikation mit den Opfern des Nationalsozialismus stattfinden, während die Täter gänzlich aus dem Blickfeld rückten. Vgl. Weigel, Sigrid (1994), S. 30.

 

[81] Weigel, Sigrid (1994), S. 29.

 

[82] Weigel, Sigrid (1994), S. 29.

 

[83] Weigel, Sigrid (1994), S. 29.

 

[84] Weigel, Sigrid (1994), S. 29.

 

[85] Vgl. Weigel, Sigrid (1994), S. 31.

 

[86] Vgl. Weigel, Sigrid (1994), S. 32f. Heidelberger-Leonard verfolgt in diesem Zusammenhang den interessanten Gedanken, dass der durch ihren Ehemann ausgeübte Terror aus der Perspektive Franziskas sogar höher einzuordnen ist, da er „eben durch seinen Anstrich von Zivilisation gefährlicher sein kann als die nackte Gewalt“, der sich Franziska in Venedig ausgeliefert sieht. Die italienische Stadt rückt dabei in die atmosphärische Umgebung eines Ausstiegs aus Franziskas sicher gewähnter, und insofern zivilisierter Welt, in der sie jedoch einer als Terror erlebten, privaten Umgebung ausgesetzt ist. Vgl. Heidelherger-Leonard, Irene (l986), S. 141.

 

[87] Weigel, Sigrid (1994), S. 33.

 

[88] Weigel, Sigrid (1994), S. 33.

 

[89] Vgl. Weigel, Sigrid (1994), S. 36.

 

[90] Vgl. Weigel, Sigrid (1994), S. 36.

 

[91] Heidelberger-Leonard: Erschriebener Widerstand? Fragen zu Alfred Anderschs Werk und Leben. In:

Buttafarano, ltalo Michele / Heidelherger-Leonard, Irene (Hg.): Alfred Andersch. Perspektiven zu Leben und

Werk. Opladen l994, S. 51- 61, hier S. 57.

 

[92] Sebald, W.G. (1993), S. 82.

 

[93] Sebald, W.G. (1993), S. 81.

 

[94] Battafarano, Italo Michele (1994), S. 248.

 

[95] Battafarano, Italo Michele (1994), S. 241.

 

[96] Battafarano, Italo Michele (1994), S. 249.

 

[97] Vgl. Weigel (1994), Klüger (1994).

 

[98] Klüger, Ruth (1994), S. 13.

 

[99] Klüger, Ruth (1994), S. 13.

 

[100] Vgl. Klüger, Ruth (1994), S. 16.

 

[101] Klüger, Ruth (1994), S. 17.

 

[102] Vgl. Klüger, Ruth (1994), S. 21. Vgl. dazu auch Abschnitt 2.3 S. 11.

 

[103] Weigel, Sigrid (1994), S. 34.

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