Eine Einführung in die Bindungstheorie von John Bowlby

 

 Verfasst von: Alexander Miró (Hamburg, 1999)

 

Inhalt

1. Definition

2. Ansätze der Bindungstheorie

2.1 Bowlbys Konzept

2.2 Begriffsunterscheidung

3. Phasen der Mutter-Kind-Bindung

4. Der Fremde-Situations Test

5. Arbeitsmodelle Bowlbys

6. Die Feinfühligkeit der Mutter

6.1 Bindungsverhalten zu verschiedenen Personen

7. Auswirkungen der Bindungssituation auf das Verhalten des Kindes

7.1 Verhaltensweisen älterer Kinder

7.2 Bindungsverhalten, explorative Verhaltensaspekte sowie soziale Kompetenz von Kindern

7.2.1 Erkundungs- und Explorationsverhalten

7.2.2 Zusammenhang von Bindungsqualität und verschiedenen Kompetenzen

Literaturhinweis:

 

 

1. Definition

Das Bindungskonzept liefert für die aktuelle Frage nach der Kohärenz in der Persönlichkeits­entwicklung einen wichtigen Beitrag, da in diesem Konzept und in den damit im Zusammenhang stehenden For­schungsaktivitäten die mehrfach betonte Integration affektiver, kognitiver und sozialer Entwicklungssysteme verdeutlicht werden. Die Bindungstheorie ist eine sehr umfassende Konzeption der emo­tionalen Entwicklung des Menschen als Kern seiner lebensnotwendigen sozial-kulturellen Erfahrungen. Eine sichere Bindung legt die Grundlagen für die Integration auch ,widersprüchlicher‘ Gefühle, im Einklang mit der Wirklichkeit. Eine unsichere Bindung dagegen kann dazu führen, daß die Gefühlserlebnisse den Tatsachen nicht entsprechen. Damit kann Bindung (attachment) als eine besondere Art der sozialen Beziehung zwischen einem Kind und einer ganz be­stimmten erwachsenen Person, in der Regel seiner Mutter gelten. Die Bedeutung der Bindung ist unbestritten, jedoch die Art ihres Entstehens und ihre Dynamik ist weniger klar. Da die Verinnerlichung der Gefühlsstruktur als Erwachsener von frühkindlichen Bindungserlebnisse gesteuert wird, folgen als zentrales Thema der Bindungstheorie die Bedingungen, die zu Unterschieden in der Organisation der Gefühle führen, sowie ihre Auswirkungen im Lebenslauf.

2. Ansätze der Bindungstheorie

Im wesentlichen bestehen drei konkurrierende Ansatze zur Erklarung der Bindungsgenese: die psychoanalytische, die lerntheoretische und die ethologische.

Nach dem Lerntheoretischen Konzept kann Bindung als Form der Abhängigkeit nach dem Prinzip sekundärer Verstärkung verstanden werden.

Der psychoanalytische Ansatz betont die Mutter als erstes Liebesobjekt des Kindes, weil sie mit elementaren Bedürfnissen, wie dem nach Nahrung, assoziiert wird.

Der ethologische Ansatz hingegen betrachtet eher den biologischen Kontext, betont also die phylogenetische Sicht.

Bowlby versucht mit seinem Ansatz, traditionell entwicklungspsychologisches und klinisch-psycho­analytisches Wissen mit evolutionsbiologischem Denken zu verbinden. Er verband psychoanalytische Hypothesen mit einer Psychodynamik individueller Anpassung zu einem Konzept emotionaler Kohärenz und Integrität. Nach der psychoanalytischen Auffassung wird die Entwicklung einer Organisation von Emotionen des Säuglings in Übereinstimmung mit seinen wirklichen Er­fahrungen durch die mütterliche Feinfühligkeit unterstützt oder durch geringe Feinfühligkeit gehindert. Dies ist der Beginn der Entwick­lung von Selbst und Selbstwertgefühl. Nach Erikson ist die liebevolle Fürsorge und die Befriedigung von Grundbedürfnissen des Säuglings von unmittelbarer Bedeutung für die Entwicklung des kindlichen Urvertrauens.

2.1 Bowlbys Konzept

Nach Bowlby besteht im Kleinkindalter eine Parallelität zwischen den Verhaltensweisen und den inneren Vorgängen, so daß damit die Möglichkeit besteht, aus den Verhaltensweisen auf die inneren Vorgänge zu schließen. Bowlby arbeitet statt mit dem psychoanalytischen Konzept der Entladung von Triebenergie mit dem Begriff des Verhaltenssystems und seiner Steuerung durch die Umwelt als auch durch den Organismus selbst. Dadurch ist die Grundlage für ein ,,zielkorrigiertes” Verhalten im Rahmen eines hierar­chisch organisierten Regelsystems geschaffen: Durch den Vergleich der Bedürfnislage des Organismus mit der gegebenen Situation (Sollwert/Ist-wert) erhält der Organismus Informationen über die Wirksamkeit seiner Aktionen auf die Umwelt bzw. den Einfluß der Umwelt auf den Organis­mus. Daraus folgen entsprechende ,,Anleitungen” zur weiteren Steuerung der Verhaltenssysteme. Diese Verhaltenssysteme stehen in unmittelbarem Zusammenhang zum Bindungsverhalten, da sie die Nähe zur Mutter herstellen und damit zum einen eine schutzgewährende Funktion erhalten, die dem Kind aber auch die Möglichkeit bieten, überlebensnotwendige Tätigkeiten und Dinge zu erlernen.

Die Bindungsbeziehung soll dem Kind ein Gefühl von Sicherheit und Vertrau­en vermitteln, wenn es unter emotionaler Belastung und erschöpften eigenen Ressourcen auf die Unterstützung seiner Bindungsperson ange­wiesen ist. Durch die Bindungsbeziehung findet aber auch eine Steuerung der Balance zwischen Nähe bzw. Sicherheitssuche und dem explorativen Erkundungsverhalten statt. Nach Ainsworth erhält die Bezugsperson damit die Funktion der sicheren Basis, von wo aus es seine Umwelt erkundet.

2.2 Begriffsunterscheidung

Hierbei sind verschiedene Begriffe zu unterscheiden: Bindung ist ein hypothetisches Konstrukt und stellt die innere Organi­sation des Bindungsverhaltenssystems und der zugehörigen Gefühle dar. Bindungsverhalten ist eine Klasse von variablen und austauschbaren Verhaltensweisen oder Signalen, die das Kind mit seiner Bindungsperson in Verbindung bringen sollen (Klammern, weinen). Die Signale im Dienste der Bindung werden nur dann geäußert, wenn das Bindungsverhaltenssystem aktiviert wird, z. B. wenn beim Kind Verunsicherung oder Angst (negative Emotionen) auftreten. Bindung ist nicht bezüglich individueller Unterschiede zu vergleichen, da nicht die Quantität, die Häufigkeiten, Dauer oder Intensität diskreter Bindungsmerkmale, sondern die Qualität bzw. die Sicherheit der Bindung der Gegenstand der Bin­dungstheorie ist. Bindung läßt sich demzufolge nicht auf bestimmte Verhaltensweisen festlegen, da die selben Verhaltensweisen unterschiedliche Bedeutung haben können. Die Qualität der Bindung muß vielmehr aus den Mustern und der Orga­nisation des Verhaltens unter Berücksichtigung des Kontextes geschlossen werden.

3. Phasen der Mutter-Kind-Bindung

Sowohl Bowlby als auch Ainsworth unterscheiden vier verschiedene Phasen der Mutter-Kind-Beziehung:

1. Phase: „In der Vor-Bindungsphase (preattachment phase) der ersten Lebenswoche ist das Kind vor allem gegenüber Reizen empfänglich, die von anderen Menschen aus­gehen. Es reagiert aber auf die Pflegeperson nicht anders als auf andere Personen“
2. Phase: In Phase 2 (phase of attachment in the making) diskrimi­niert das Kind in seinem Bindungsverhalten zwischen vertrauten und weniger ver­trauten Personen.“

3. Phase: Etwa mit dem 7. Monat tritt das Kind in eine Phase, in der es aktiv die Nähe der Pflegeperson sucht und nicht nur wie in Phase 2 den Wunsch nach Nähe signalisiert. Diese Phase fällt zeitlich mit der Stufe 4 der Entwicklung der Objekt- und Personenpermanenz zusammen, in der auch dann die Existenz von Gegenständen und Personen angenommen wird, wenn diese nicht unmittelbar Wahrnehmung zugänglich sind.

4. Phase: Phase der zielkorrigierten Partnerschaft (goalcorrected partnership) die in der Regel um das 3 bensjahr einsetzt, bis sich das Kind in die Rolle seiner Mutter versetzt und so ihre Gefühle, Motive und Handlungsentwurfe verstehen kann. Damit erwirbt das Kind die Kompetenz, Ziele und Handlungen der Mutter so zu beeinflussen daß zumindest ein für beide Seiten akzeptabler Kompromiß entsteht.

4. Der Fremde-Situations Test

Grundlage für die Bindungsqualität ist, wie das Kind die Pflegeperson als sichere Basis für sein Erkundungsverhalten einsetzt und ob es bei ihr in Belastungssituationen Trost sucht und auch erhält. Diese Verhaltensweisen werden in einem von Ainsworth entwickelten Fremde-Situations-Test beurteilt. Die Fremde-Situation beleuchtet nur einen Ausschnitt von Bindung. Beobachtet wird, ob Kinder Trennungsschmerz zeigen und ihn durch physische Nähe zu ihrer Bindungsperson zu überwinden suchen: Die Typen, die mit der ,,Fremde Situation” gemessen wurden, definieren die Qualitäten ,,si­chere” („B“), ,,unsicher-vermeidende” (,,A”) und ,,unsicher-ambivalente” (,,C”) Bindung eines Kindes an seine Mutter (oder Vater) im Alter von zwölf Monaten. Als Klassifikation für Bindungssicherheit wird hierbei die Mutter-Kind-Interaktion während Wiedervereinigung angenommen.

Gruppe B: Hier suchte bei der Rückkehr der Bindungsperson besonders nach der zweiten Trennung das Kind Nähe und Körperkontakt, wenn es geweint hatte, oder grüßte die Bindungsperson freundlich und ergriff die Initiative zur Interaktion.
Gruppe A: Sie ignorierten ihre Bindungsperson bei ihrer Rückkehr und vermieden die Interaktion mit ihr für eine gewisse Zeit

Gruppe C: Sie zeigten schon zu Be­ginn so viel ängstliches Verhalten, daß sie sich nur schwer von der Mutter lösen konnten. Während der Trennung waren sie extrem aufgebracht und wollten zwar nach der Rückkehr der Mutter sofort auf ihren Arm, waren dort aber ärgerlich aggressiv gegen sie und ließen sich nur schwer beruhi­gen.

Bisher ist jedoch nicht  geklärt, was der Fremde-Situationstest eigentlich mißt. So kann vermutet werden, daß dieses Verfahren kein Persönlichkeitsmerkmal, sondern eher die Beziehung zwi­schen spezifischen Partnern erfaßt. Es ist auch unklar, ob die der Klassifikation der Kinder zugrunde liegenden Verhaltensmuster – insbesondere die Suche nach Nähe und Körperkontakt in den Wiedervereinigungsphasen – kulturübergreifende Indi­katoren der Bindungsqualität darstellen. Insofern ist die Frage, ob sich das Beurteilungsverfahren überhaupt zur Identifika­tion der Qualität einer Beziehung eignet.

5. Arbeitsmodelle Bowlbys

Nach Bowlby werden die gesamten dyadischen Er­fahrungen im Laufe der Entwicklung zunehmend als Pläne mit ge­setzten Zielen (zielkorrigiert) organisiert und als ,,Arbeitsmodelle” der Umwelt, der Bindungspersonen und der eigenen Person, also inneren ,,kognitiven Landkarten” von bindungsrelevanten Erfahrungen, entworfen. Mit Hilfe der Arbeitsmodelle versucht das Kind seine Bindungspläne zu verwirklichen und insbesondere den Verlust der Zugänglichkeit der Bindungsperson zu vermeiden, da dies mit Furcht und Unsicherheitsgefühlen einhergeht. Die Arbeitsmodelie als Resultat der Erfah­rungen (outcomes) von Handlungen und Plänen (intentions), die bin­dungsrelevant sind, sind geistige Repräsentationen, die sowohl affektive, als auch kognitive Komponenten einschließen. Einmal gebildet, existieren die Arbeitsmodelle zum Teil außerhalb des Bewußt­seins und neigen, obwohl nicht unveränderbar, zu deutlicher Stabilität. Die mehr oder weniger reflektierten Arbeitsmodelle schaffen auch Regeln für die Aufmerksamkeit gegenüber den eigenen Ge­fühlen und für (selektive) Gedächtnisprozesse, die den Zugang des Indivi­duums zu bindungsrelevanten Formen des Wissens bezüglich des Selbst, der Bindungspersonen und der Beziehungen erweitern oder begrenzen. Ein Schlüsselmerkmal des Arbeitsmodells von der Welt, das sich jeder schafft, ist die Vorstellung von dem, was seine Bindungspersonen sind, wo es sie finden kann, und wie sie wahrscheinlich reagieren.

6. Die Feinfühligkeit der Mutter

Die Entwicklung der Bindungsqualität wird entscheidend von der Art d und Weise des früheren Verhaltens  der Pflegeperson gegenüber dem Kind beeinflußt. So stand bei den Untersuchungen die mütterliche Feinfühligkeit in enger Beziehung zu vielen positiven Verhaltensweisen der Säuglinge. Mütter der Bindungssicheren Kinder sind feinfühliger, kooperativer, verfüg­barer für das Kind und akzeptieren es auch mehr als Mütter bindungsängstlicher Kinder. Die Kinder feinfühliger Mütter such­ten ihre Nähe bei Leid, lösten sich aber auch wieder von ihr, wenn sie ge­tröstet waren, sie zeigten weniger Ärger, Aggression und Ängstlichkeit in Interaktion mit Mutter, vertrauten der Verfügbarkeit der Mutter und gingen auf Ge- und Verbote der Mutter ein. Kinder weniger feinfühliger Mütter zeigten hingegen entweder eine außergewöhnliche Unabhängigkeit von ih­ren Müttern, vermischt mit einzelnen Episoden unvermittelten Ärgers, oder eine gesteigerte Ängstlichkeit und Unzufriedenheit. Die Sicherheit der sicher gebundenen Kinder liegt nach Ainsworth darin, daß sie eine Erwartung bzw. eine innere Repräsentation ihrer Mutter generell verfügbar und responsiv bilden können.

6.1 Bindungsverhalten zu verschiedenen Personen

Kinder bauen jedoch i.d.R. zu mehreren Personen ein enges Vertrauensverhältnis auf. Die anderen Personen werden nicht selten sogar lieber aufgesucht, wenn es spielen und lernen möchte, wenn also das Bindungsverhaltenssystem nicht aktiviert ist und das Erkundungssystem vorherrscht. Hieraus läßt sich ablesen, daß nicht die Menge der Interaktion zwischen einem Erwachsenen und einem Kind für den Aufbau von Bindung ausschlaggebend ist, sondern vielmehr die Intensität der mit dem Kind verbrachten Zeit (so gehen Kinder oftmals ein sehr enges Bindungsverhältnis zum Vater ein, obwohl dieser meist weniger Zeit mit dem Kind verbringt). Sroufe sieht die Bedeutung einer responsiven Pflegeperson insbesondere darin, daß sie dem Kind angesichts der durch neue Reize hervorgerufenen Erregung hilft, organisiertes Verhalten aufrechtzuerhalten. Das Kind lernt so mit neuen und komplexen Reizen in einem vertrauten Kontext umzugehen. Bindung repräsentiert demnach das Vertrauen, das das Kind hinüber nehmen kann in neue Situationen.

An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, daß die Eltern meist dieselbe Bindungshaltung zu ihren Kindern haben wie sie selber zu ihren Eltern. So ergaben sich hoch signifikante Zusammenhän­ge zwischen der durchschnittlichen Feinfühligkeit der Mütter im ersten Jahr und der Fähigkeit der Mütter, sich im Interview an Bindungserlebnisse ihrer eigenen Kindheit zu erinnern, sich überhaupt an vieles zu erin­nern und noch heute ihre Gefühle von damals lebendig zu spüren.

7. Auswirkungen der Bindungssituation auf das Verhalten des Kindes

7.1 Verhaltensweisen älterer Kinder

Aus Längsschnittanalysen ist abzulesen, daß bei etwa 80% der beobachteten Kinder bindungsrelevantes Verhalten gegenüber ihren Müttern mit sechs Jahren mit dem entsprechenden Verhalten in der ,,Fremde Situation” (bezüglich der Gruppen A, B und C) mit zwölf und achtzehn Monaten übereinstimmte. Bindungssicherheit mit der Mutter im frühen Kindesalter hing zusammen mit positiver Einschät­zung des Allgemeinverhaltens während der ganzen Beobachtungszeit, mit positiven Reaktionen auf ein Photo der Familie und mit emotionaler Of­fenheit in einem Interview zu fiktiven Trennungen. ­Matas konnte aufzeigen, daß bindungssichere Kinder mehr symbolische Spielhandlungen durchführten, mit positiveren Affekten und mit größerem Durchhaltevermögen Probleme lösten als bindungsunsichere Kinder. Unsichere zeigen mehr Frust und leisteten größeren widerstand gegen Vorschläge ihrer Mütter. Umgekehrt waren die Mütter der bin­dungsängstlichen Kinder weniger aufmerksam ihren Kindern gegenüber und unter­stützten sie weniger und qualitativ schlechter als die Mütter der Bindungssicheren Kinder. Die bindungssicheren 6jährigen sprachen in Zusammenhang mit den Gefühlen eines von Tren­nungen betroffenen Kindes offener über Angst und Trauer und fanden häufiger konstruktive Perspektiven, einschließlich der Möglichkeiten so­zialer Unterstützung, wie man die Trennung überbrücken könnte, sie wirkten entspannt. Die Bindungsunsicheren wirkten eher gespannt und vereinbarten in ihren Antworten selten negative Gefühle mit konstruktiven Lösungsansätzen. Allgemein ließen sich bei den sechsjährigen Bindungsunsicheren Kindern verschiedene Einschränkungen bezüglich ihrer Informationsverarbeitung und Aufmerksamkeit feststellen, während bei den Bindungssicheren ein freierer Zugang zu Affekten, Gedächtnis und den angebotenen Bindungsthemen bestand (sowohl im Dialog mit den Eltern oder der Auseinandersetzung mit fiktiven Situationen).

7.2 Bindungsverhalten, explorative Verhaltensaspekte sowie soziale Kompetenz von Kindern

7.2.1 Erkundungs- und Explorationsverhalten

Indem das Erkundungsverhalten ein Sich-Entfernen von der Mutter bein­haltet, ist es gegensätzlich zum Bindungsverhalten, dessen Ziel ja die Auf­rechterhaltung der Nähe zur Mutter ist. ,,Neugier” wird vom Reiz des Neuen und Unbekannten angeregt, was gleichzeitig Unsicherheit und Gefahr in sich birgt und somit Alarm und Rückzug verursachen kann. Bindungssichere Kinder erkunden die häusliche Umgebung mehr (Ainsworth 1971) und neh­men eher Kontakt zu fremden Personen auf als bindungsängstliche Kinder. So ist festzustellen, daß sie sich in einer neuen Umgebung freier be­wegen und stärker ihre Umwelt explorieren und weniger negative Affekte zeigen, wenn die Mutter bzw. die Pflegeperson anwesend ist. Darüber hinaus ist aber Bindung-Exploration-Balance aber auch durch Raumgröße, Aufenthaltsdauer usw. beeinflußt.

7.2.2 Zusammenhang von Bindungsqualität und verschiedenen Kompetenzen

Darüber hinaus wurden auch Zusammenhänge zwischen der Bindungsqualität und der frühen soziale Kompetenz, also der Fähigkeit des Kindes, durch Eigenaktivität das Verhalten seiner Umgebung, insbe­sondere der Pflegeperson ihm gegenüber zu kontrollieren, untersucht. Hierbei scheint sich folgendes Bild abzuzeichnen: Sicher gebundene zweijährige Kinder wurden als freundlicher, kooperativer und zugewandter gegenüber der Mutter beschrieben, sie entwickeln bessere Steuerungs- und Kommunikationsstrategien, waren kooperativer und wirkten dabei freudigerregter und geschickter im Spiel. Mütter, die das Schreien ihrer Kinder nur selten ignorierten und mit nur geringer Verzögerung darauf rea­gierten, hatten Kinder, die nur selten weinten und variationsreicher und differen­zierter kommunizieren konnten als Mütter, die das Schreien ihrer Kinder weniger beachteten. Gleichermaßen kann aber gesagt werden, daß eine sichere Bindung zwar eine emotional und motivational hilf­reiche, aber kognitiv nicht ausreichende Bedingung für die Entwicklung einer Spiel- und sachorientierten Kompetenz, da die spiel-oder sachorientierte Beziehung für Eltern und Kind eine andere Form des Miteinanders als Bindungs- und Fürsorgeverhalten darstellt.

Das Arbeitsmodell Bowibys geht davon aus, daß frühe und andauernde Bindungserfahrungen allmählich verinnerlicht werden und die Qualität der Beziehung zu besonderen Mitmenschen später im Leben beeinflussen, was in der Gefühlsregulation in belastenden Situationen deutlich wird. Eine sichere Bindung bedeutet, aufgrund vorliegender Forschungsergebnisse, eine er­folgreiche Integration belastender Erfahrungen in eine insgesamt unterstützende Kind-Mutter Beziehung und damit eine Toleranz für negative Erfahrungen. Eine unsicher-vermeidende Bindung scheint später eine hohe Erinnerungsschwelle gegenüber nega­tiven Gefühlen der Zurückweisung nach sich zu ziehen und baut stattdes­sen unrealistische Idealisierungen auf.

Gefühlsäußerungen des Kindes wirken auf die Pflegeperson als Signale für kindli­che Bedürfnisse und sind somit von grundlegender Bedeutung für die Qua­lität der Bindungsbeziehung in der frühen Kindheit. Umgekehrt dienen die elterliche Haltung dem Kind gegenüber diesem als Quelle der Selbstbewertung. Frühkindliche Interaktionserfahrungen bilden in Form von wahrgenommenen Fremdbewertungen durch die Bezugsperson die Basis für den Aufbau von Selbstvertrauen. Damit bestimmen nach Bowlby frühkindliche Erfahrungen im Gefühlsbereich den Aufbau eines spezifischen Selbst- und Weltbildes, welches für spätere Verhaltenstendenzen verant­wortlich ist.

Literaturhinweis:

– Grossmann, Klaus/August, Petra u.a: Die Bindungstheorie: Modell und entwicklungspsychologische Forschung. In: Keller, Heidi (Hg.): Handbuch der  Kleinkindforschung. Berlin, Heidelberg 1989.

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