Einfluß der Primärbezugspersonen auf das Kind

Verfasst von: Alexander Miró (Hamburg, 1999)

 

Inhalt:

1. Dyadische Konstellationen

2. Triadische Situation

3. Die Eltern als Vermittlungsinstanz des gesellschaftlichen Normen und Wertesystem

4. Die Einflußfaktoren der Bezugspersonen

4.1 Mutter-Kind-Interaktion

4.2 Stimulation und Spielverhalten

4.3 Die Kinderpflege

4.4 Die Sicherheitsgewährende und Schutzfunktion der Eltern

Literaturhinweise:

 

 

1. Dyadische Konstellationen

Aus der kindlichen Perspektive werden die Eltern nicht von Beginn an als einheitliche Instanz wahrgenommen. Insbesondere in der frühesten Lebenszeit gewinnt die Mutterbindung des kleinen Säuglings eine herausragende Bedeutung für den weiteren Entwicklungsverlauf des Kindes. In der frühesten Phase der Entwicklung ist das neugeborene Kind nicht nur unfähig, ein Ding vom anderen zu unterscheiden, es kann darüber hinaus in dieser Zeit die Außenwelt nicht einmal vom eigenen Körper abgrenzen und emp­findet zu diesem Zeitpunkt die Umgebung (insbesondere die Mutter) als noch nicht von sich getrennt. Es ist nicht nur die – veränderbare – gesellschaftliche Arbeitsteilung, die den Müttern jedenfalls in den ersten Lebensjahren des Kindes immer noch den größten Teil der Versorgung zuweist, sondern es ist ganz wesent­lich die biologisch bedingte, primär körperliche Verbindung durch Schwan­gerschaft, Geburt und Stillen, die die Mutter in ganz besonderer Weise an das Kind bindet. Während also die biologische Funktion der Mutter unmittelbar erlebt wird, ist die des Vaters zunächst abstrakt und wird erst später be­griffen; in den frühen Wahrnehmungen des Kindes mag er allerdings in irgendeiner Weise mit der Mutter verschmolzen sein, wenn er Pflegefunktionen über­nimmt. In der frühen Entwicklung des Kindes beinhaltet die Möglichkeit der Identifizierung mit dem idealisierten Vater (als ‚Drittem‘) die Chance, aus der für es äußerst ambivalent und symbiotisch erlebten Beziehung zur Mutter ein Stück weit auszubrechen. Die vom Vater vermittelte Perspektive der Außenwelt beginnt das Kind entwicklungsbedingt in der Zeit zwischen dem 1. und 3. Lebensjahr neugierig zu erforschen. Deswegen wird die Anwesenheit des Vaters als Repräsentant dieser Außenwelt vom Kind oftmals mit besonderer Freude und Begeisterung wahrgenommen. Die folgende Hinwendung zu ihm kann daher als Ausdruck des neuen Interesses an dieser Welt interpretiert werden. Damit wird die väterliche Position in dieser Zeit zum Vertreter für den ‘Nicht-Mutter-Raum‘ und zur aufregenden Erforschung dieser Wirklichkeit, während die Mutter als ‚Heimatbasis‘ in der Periode des ‚Auftankens‘ fungiere. Indem das Erkundungsverhalten ein Sich-Entfernen von der Mutter bein­haltet, ist es gegensätzlich zum Bindungsverhalten, dessen Ziel ja die Auf­rechterhaltung der Nähe zur Mutter ist. ,,Neugier” wird vom Reiz des Neuen und Unbekannten angeregt, was gleichzeitig Unsicherheit und Ge­fahr in sich birgt und somit Alarm und Rückzug verursachen kann. Deswe­gen braucht das Kind die Möglichkeit des Sich-Zurückziehen-Könnens zur Bindungsperson als Sicherheitsbasis.

Die dargestellten Prozesse des sich Annäherns und Entfernens von der Mutter wurden von Mahler und ihren Mitarbeitern in ein Phasenmodell übertragen und damit in eine Theorie übertragen, die auf die sich verändernde Realität der Eltern-Kind-Beziehung hinweist. Als umfassendes Strukturprinzip familialer Systeme gilt damit die Ausbalancierung von Nähe und Distanz. Zu große Nähe gefährdet die Differenzierung zwischen Selbst und Umwelt und erschwert die Fähigkeit, sich als selbständiges Individuum zu begreifen; zu große Distanz bringt eine zu frühe Pseudoselbständigkeit hervor und verhindert die Fähigkeit, Objektbeziehungen einzugehen und aufrechtzuerhalten.

Das Phasenmodell stellt den ambivalenten Wunsch des Kindes dar, einerseits den früheren Zustand der symbiotischen Zwei-Einheit mit der Mutter wiederherzustellen, andererseits aber seinen Kampf um Autonomie, die dazu führen, daß das Kind in rasenden Zorn gerät, wenn die Mutter in seine Bemühungen, etwas ,,allein” zu machen, eingreift. Die Konstellation schwankt also zwischen sehnlichst erwünschter Nähe und ebenso sehnlichst erwünschter Distanz zur Mutter. Die bisherige Beziehung zum Vater dagegen war zwar emotional wichtig, aber niemals so intensiv und allumfassend wie die zur Mutter, d.h. weder erlebt das Kind eine schmerzliche Trennung vom Vater, noch muß es sich fürchten, vom Vater in die Symbiose der Frühzeit zurückgezogen zu werden. Der Vater befindet sich in dieser Situation somit in einer wesentlich unverfänglicheren Rolle, da er in die frühen Ambivalenzen, die sich um das Thema Nähe und Distanz, um Individuations- und Symbiosewünsche drehen, nicht integriert ist – eine zeitweilige Bevorzugung des väterlichen Objekts ist daher nicht verwunderlich.

2. Triadische Situation

Insbesondere zu Beginn seines Lebens ist das Kleinkind sehr stark auf die Fürsorge Aufmerksamkeit seiner Bezugspersonen angewiesen, um die schwierigen Entwicklungsaufgaben der ersten Lebensjahre ohne Störungen zu durchlaufen. In diesem Zusammenhang wird insbesondere durch die Säuglingsforschung auf die außergewöhnliche Bedeutung der frühe triangulären Familiensituation hingewiesen – einer Familiensituation also, die sich durch die Vorstellung einer Drei-Figuren-Konfiguration auszeichnet, in der die eigenen Einstellungen und Beziehungserfahrungen sowohl durch die eigene Beziehung zu den beiden anderen Triangulationsteilnehmern, als auch durch die Beziehung der beiden anderen Figuren zueinander gebildet und beeinflußt werden und damit zur kindlichen Entwicklung beitragen.

Winnicott erkannte bei der Entwicklung des Säuglings einen Zustand, der diesem bereits sehr früh erlaubt, sein Interesse von der Mutter abzulenken und auf ein anderes Objekt zu richten. Der Säugling befindet sich nach diesem Konzept zu Beginn seiner Entwicklung keinesfalls innerhalb eines ‚geschlossenen Systems‘, das ihn ausschließlich mit seiner Mutter verbindet, sondern es entsteht bereits ab der 3. Lebenswoche ein „Intermediärraum“, in dem der Säugling sich in einem Gleichgewichtszustand befindet und unabhängig von primären Bedürfnissen (z. B. nach Nahrungsaufnahme) dazu fähig ist, sein Interesse auf andere Objekte zu richten. Diese Position, demzufolge die kindliche Position von Beginn an triadisch angelegt ist, läßt sich also von einer Position unterscheiden, wie sie etwa von Mahler und seinen Mitarbeitern vertreten wird, demzufolge das Kind sich erst in einer ausschließlichen dyadischen Konstellation mit der primären Bezugsperson befindet (i.d.R. die Mutter), die sich dann im Laufe der Zeit zu einer triadischen Konstellation erweitert.

Die Familie wird in neueren Untersuchungen zur Kindesentwicklung als ein System betrachtet, innerhalb dessen sehr heterogene und reflexive Prozesse ablaufen, die insgesamt für das Kind sehr prägend sind. Das System ‘Familie’ kann als ein „sozialer Mikrokosmos“ gesehen werden, in den das Kind, ursprünglich noch als ein „in Hilflosigkeit getauchtes Lebewesen“, hineingeboren wird und in dem es die mitmenschliche Kommunikation erlernt und dadurch seine Identität ausbildet. Neben der Beziehung der einzelnen Bezugspersonen zum Kind, scheint daher auch deren Beziehung zum übrigen Familiensystem eine entscheidende Relevanz zu gewinnen. Hieraus entwickelt sich die These, daß nicht die Mutter/Vater-Kind-Beziehung den primären Sozialisationsfaktor darstellt, sondern die elterliche und gesamtfamiliäre Beziehung einen weitaus wesentlicheren Einfluß auf die Entwicklung des Kindes hat. Der positive Umgang der Eltern miteinander erhält damit eine Signalwirkung, in der dem Kind von den Eltern eine Verhaltensweise vorgelebt wird, die es bereitwillig verinnerlicht und übernimmt. Neben all den konflikthaften Auseinandersetzungen, den ambivalent erlebten Einstellungen gegenüber den Mutter- und Vaterbildern, erhält die Erfahrung der begehrenden und liebevollen Einstellung der Eltern zueinander ein Hoffnung spendendes Moment und weckt das Interesse des Kindes auf ein zukünftiges, eigenes ‚Liebenkönnen‘.

Die Eltern haben für das Kind eine starke Vorbildfunktion. Diese Idealisierung der Eltern drückt sich nicht nur in der frühkindlichen Bewunderung gegenüber den Verhaltensweisen oder den Eigenschaften der Bezugspersonen aus (z. B. der Stolz des Kindes auf den beruflich erfolgreichen Vater), sondern sie beeinflussen auch deren soziale Handlungsweisen (z. B. die Übernahme bestimmter Handlungsmuster). Das Kind wird daher sein Interesse auch darauf richten, ob sich die Beziehung der Eltern auf einer gleichberechtigten Ebene bewegt oder ob sich hierin ein Ungleichgewicht, eine Auf- oder Abwertung von Wünschen oder Bedürfnissen eines Familienmitglieds widerspiegeln. Eine geglückte Triangulation wird daher auch nur dann stattfinden können, wenn jeder Teilnehmer der Dreieckskonstellation seine und die Interessen der anderen in ausreichendem Maße bestätigt und erfüllt sieht. In diesem Zusammenhang ist es wichtig darauf hinzuweisen, daß nicht nur die realen Wahrnehmungen der elterlichen Beziehung von Bedeutung sind, sondern daß darüber hinaus auch die vom Kind phantasierten Vorstellungen und Phantasien, die von eigenen Wünschen, aber auch von erfahrenen Versagungen beeinflußt werden, einen wesentlichen Einfluß auf die wahrgenommene triadische Familiesituation haben.

Neben der direkten Eltern-Kind-Interaktion muß, vergegenwärtigt man sich die zuvor dargestellte Bedeutung der triangulären Familiensituation, auf die für das Kind sicherlich nicht minder bedeutende Interaktion der Eltern untereinander hingewiesen werden. Da gerade in diesem Bereich weitestgehend erhebliche Untersuchungsdefizite herrschen, seien an dieser Stelle nur einige Hinweise gegeben: Inwieweit entwickeln die Eltern etwa im Beisein des Kindes eine Kommunikationsstruktur, durch die das Kind an für es relevante Informationen über das elterliche Verhältnis gelangt? Und inwieweit wird für das Kind anhand der elterlichen Interaktion deutlich, daß ein solches von ihm unabhängiges Eheverhältnis überhaupt vorhanden ist?

Neben den bisher dargestellten Einflüssen der Interaktion, der elterlichen Beziehungskonstellation sowie den Idealisierungstendenzen erhalten auch die identifikatorischen Prozessen einen wesentlichen Einfluß auf die triangulären Familienverhältnisse. So wirkt sich etwa die Identifikation mit einem der beiden Elternteile nicht nur auf die Vater/Mutter-Kind-Beziehung aus, sondern sie verändert zugleich auch die Beziehung des Kindes zum anderen Elternteil. Aufgrund der triangulären Beziehungskonstellation wird es dem Mädchen z. B. nicht schwerfallen, sich in die libidinösen und idealisierenden Wünsche des Vaters in Bezug zu seiner Frau einzufühlen, womit die affektiven Wünsche des Vaters von der Tochter gespiegelt werden und sich so zu einem Medium der töchterlichen (weiblichen) Selbst-Erkenntnis entwickeln können. Die frühe Triangulation legt also die Grundlage für das Kind, die eigene Unabhängigkeit wahrzunehmen, indem es die Eltern als getrennte Objekte erkennt. Hierin wiederum liegt eine entscheidende Bedingung dafür, sich in die Bedürfnisse und Wünsche der Eltern einfühlen zu können. Nur wenn das Kind die Eltern als von sich unabhängig wahrnimmt, wird es das Bedürfnis entwickeln, sich mit dem Vater oder der Mutter zu identifizieren und darüber hinaus die Akzeptanz dieser Identifikation als positiv bewerten.

Ich habe bereits am Anfang darauf hingewiesen, daß das Kind bereits sehr früh äußerst differenzierte und spezifische Vorstellungen von den einzelnen Bezugspersonen gewinnt (dies soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß etwa bei den Versorgungs- und Pflegetätigkeiten zwischen den beiden Elternteilen die Übereinstimmungen und die biologischen Voraussetzungen eher größer sind als die Unterschiede). Diese Wahrnehmungen der Bezugspersonen werden innerhalb des Sozialisationsprozesses jedoch nicht nur positiv beantwortet, sondern das Kind wird während seiner Entwicklung zugleich mit äußerst negativen Erfahrungen und Erlebnissen umzugehen haben. Aus dieser Perspektive ist es für das Kind (aber wohl auch für die Bezugspersonen) von großer Bedeutung, die eigenen Wünsche und Bedürfnisse, die durch die eine Bezugsperson enttäuscht wurde, von einem anderen Objekt befriedigt zu sehen. Hier gewinnt die Anwesenheit des Vaters an Bedeutung, da er hier in der frühen Entwicklung des Kindes gewissermaßen in die Rolle eines Ersatz- oder Ausweichobjekts tritt. Sowohl die Mutter als auch das Kind können sich in diesem Sinne mit ihren aggressiven Tendenzen auf den Vater berufen, wodurch sie potentielle Ängste vor der Rache des anderen abwenden können – auch hier erhält also die triadische Konstellation eine große Bedeutung.

Die Errichtung der Vaterschaft ist entscheidend an die mütterliche Erlaubnis gebunden und kann sich daher auch nur mit der Unterstützung der Mutter voll entfalten. Es ist daher von besonderer Bedeutung, wie die Rolle des Vaters von der Mutter eingeführt und konzeptualisiert wird, da sich hieraus das Verhältnis des Kindes zu einer väterlichen Figur ableiten wird. Die An- oder Abwesenheit des Vaters wird von Beginn an verbal und durch Verhaltensweisen von der Mutter ausgestaltet und so von ihr als bedeutsam oder weniger bedeutend dargestellt. Die Art, wie die Mutter über den Vater spricht und auf seine Anwesenheit reagiert, leistet daher einen entscheidenden Beitrag für die Vater-Kind-Beziehung. Es wurde bereits angedeutet, daß hierbei nicht nur die realen Erlebnisse von Bedeutung ist, sondern daß die Vermittlung des Vaterbildes bereits in der gemeinsam ausgearbeiteten und geteilten Phantasie über den Vater entsteht, in der die Mutter dem Kind ihre Bereitschaft zu einer triangulären Familiensituation andeutet und in dem sie ihm ihre positive Einstellung gegenüber dem Vater verdeutlicht. Wenn die Mutter den Vater nicht als einen ‚Dritten‘ anerkennt und unterstützt, kann dies im weiteren Verlauf dazu führen, daß eine trianguläre Familiensituation verhindert wird. Verdeutlicht sie dem Kind hingegen ihre positive Einstellung gegenüber dem Vater, ist es dem Kind dadurch möglich, den Vater außerhalb einer symbiotischen Einheit mit der Mutter zu erleben; er wird eigenständig und unabhängig von der Mutter wahrgenommen, wodurch es dem Kind zunehmend möglich wird, auch sich selbst als unabhängig, als von der Mutter getrennte Einheit repräsentieren zu können.

 

3. Die Eltern als Vermittlungsinstanz des gesellschaftlichen Normen und Wertesystem

Für das Kind sind die Eltern nicht nur Spender libidinöser Zuwendung oder Vermittler von Sicherheit und Geborgenheit, sondern sie sind auch die ersten Objekte, die dem Kind kulturelle Werte und gesellschaftliche Normen präsentieren. Diese Vorgänge drücken sich in den elterlichen Erziehungsmaßnahmen aus, indem die Verhaltensweisen der Kinder mit positiven und negativen Sanktionen entweder gut geheißen und unterstützt oder bestraft werden. Neben der Vermittlung gesellschaftlicher Vorgaben durch aktive Erziehungsarbeit übernehmen Kinder diese Normen aber ebenso durch Imitation der elterlichen Verhaltensweisen.

In der weiteren Entwicklung des Kindes kommt dem Vater zunehmend die Aufgabe zu, sowohl innerfamiliär als auch nach außen eine Verbotsinstanz zu repräsentieren. Die Beziehung zum Vater führt symbolisch daher zum Aufbau einer klareren Struktur innerhalb des Familienverhältnisses. Die strukturbildende Funktion des Vaters ergibt sich aus dieser Sicht nicht durch seine Blutsbande zum Kind, sondern vielmehr durch den Ort, den dieser oder eine andere, dieses Prinzip vertretende Person, in der Familienstruktur einnimmt. Die durch den Vater, oder einer Ersatzinstanz gebildete Familienkonstellation erhält eine spezifisch strukturierende Funktion für das Kind, die dessen weitere Entwicklung auch in geschlechtlicher Hinsicht entscheidend mitgestaltet. Eine wesentliche Funktion des Vaters kann also darin gesehen werden, daß mit ihm an die Stelle der biologischen Triade die „strukturale Triade“ zu treten hat, in der der Vater eine strukturierende Position innerhalb des Familiengefüges einnimmt. Die Entstehung der symbolischen Familienordnung, wie sie in der psychoanalytischen Interpretation durch das Inzestverbot des Vaters oder einer vergleichbaren Instanz geschaffen wird, ist aus dieser Sicht daher eine notwendige Bedingung für die Entstehung des Subjekts.

Doch nicht nur der Vater, sondern beide Elternteile vermitteln dem Kind in der frühen Phase letztlich einen Eindruck von der Beschaffenheit der äußeren Welt außerhalb des Familienkreises. Sie sind es, die das Kind einführen in die außerfamiliäre Umgebung, die dem Kleinkind Mut zusprechen, seiner Neugier nachzugeben. Die enge Bindung an seine Bezugspersonen bildet für das Kind die siche­re Basis, von der aus allein ihm Neugierverhalten, Spiel und Lernen mög­lich sind. Die Nähe und Verfügbarkeit der Bezugspersonen hat direkten Einfluß auf das Explorierverhalten des Kindes, das sich bei angstauslösenden Reizen zu ihnen zurückziehen will.

 

4. Die Einflußfaktoren der Bezugspersonen

Die bisherigen Ausführungen haben dargestellt, daß sich das Kind nicht nur in einer sehr engen Beziehung zu seiner primären Bezugsperson befindet, sondern daß darüber hinaus die gesamtfamiliäre Situation (es ist noch darauf hinzuweisen, daß die geschwisterliche Beziehung offenbar einen ebenso wesentlich Faktor in der Kindesentwicklung darstellt) von ebenso großer Bedeutung ist. Welche spezifischen Einflüsse sind es aber nun, die auf das Kind einwirken. In welcher Art können die Bezugspersonen auf die Entwicklung des Kindes einfluß nehmen?

 

4.1 Mutter-Kind-Interaktion

Die Wurzeln der emotionalen Entwicklung finden wir in der wahrscheinlich zuerst instinktiv vorprogrammierten  Interaktion von Mutter und Kind, wenn diese auf sein Schreien mit adäquaten Maßnahmen zur Bedürfnisbefriedigung, zur Linderung von Unbehagen, Schmerz, Unruhe und dergleichen reagiert, und auch in den nicht ausschließlich auf die Lebenserhaltung gerichteten Interaktionen, die darin bestehen, daß die Mutter das Kind zu sozialen Reaktionen animiert, mit ihm spielt und auf dessen Kontaktanbahnungsversuche entsprechend antwortet. In engstem Zusammenhang mit diesen sozialen Interaktionen, bei denen die Mutter vom Kind ebenso gesteuert wird wie das Kind von der Mutter, stehen die Anfänge der Wahrnehmungsentwicklung. Der frühe Kontakt der Mütter mit dem Kind nach der Geburt sorgt auch noch einige Jahre danach dafür, daß diese Mütter fürsorglicher mit dem Kind umgehen: Die Frühkontaktmütter waren in ihrem Umgangston mit den Kindern weniger autoritär und gingen bereitwilliger auf deren Bedürfnisse ein. Es ist durchaus möglich, daß die ersten Stunden nach der Geburt so etwas wie eine besonders sensible Periode für die Beziehung der Mutter zum Kind sind. Die frühe Kontaktaufnahme geht nun so vonstatten, daß das Kind Schlüsselreize in Form diffuser Unruhe oder je nach Ursache verschiedener Arten des Schreiens aussendet, mit denen es Hunger, Unbehaglichkeit o.ä. signalisiert. Bei ungestörter Beziehung zu ihrem Kind reagiert die Mutter i.d.R. äußerst empfindlich auf diese Signale. Für den Säugling sind die Signale, die durch das affektive Klima der Mutter-Kind-Beziehung gegeben sind, offensichtlich eine Kommunikationsweise, auf die der Säugling als Gesamtwesen reagiert und die von der Mutter wiederum in ebensolchen ganzheitlichen Reaktionen wahrgenommen und erwidert werden. Durch die zärtliche Zuwendung der Mutter und ihrer Interaktion mit dem Kind zum Zwecke seiner Bedürfnisbefriedigung (allerdings auch nicht ohne diese Faktoren!) bildet die Gewöhnung an das gleiche Gesicht, an die gleiche Stimme, an den gleichen Geruch, an die gleiche Art des Behandelt­werdens die Grundlage des Gefühls der Sicherheit, der Geborgenheit und des Urver­trauens in die Welt. Die humanethologische Forschung geht davon aus, daß die enge Mutter-Kind-Beziehung nicht aufgrund hormonaler Veränderungen in der Mutter hergestellt wird, sondern davon, daß die spezifische Fähigkeit, mit kleinen Kindern zu interagieren, prinzipiell alle Menschen besitzen und nicht auf die biologische Mutter allein beschränkt ist. Es handelt sich hierbei zumindest um ein fruchtbares heuristisches Konzept, das es ermöglicht, die Entwicklung des Kindes von Geburt an als über soziale Interaktion konstituiert zu begreifen. Ein zentraler Begriff in diesem Konzept ist der der wechselseitigen Stimulation, auf den ich im nächsten Abschnitt näher eingehen möchte.

4.2 Stimulation und Spielverhalten

Das Kind sucht aktiv Stimulation, und die Mutter reagiert auf diese Aufforderung oder initiiert sie ihrerseits in Erwartung der Reaktion des Kindes. Natürlich hat die Mutter in diesem wechselseitigen Stimulationsprozeß meistens die Führung, d.h. sie bemißt intuitiv das Maß an Stimulierung, das dem Entwicklungsstand und Temperament des Kindes entspricht. Offenbar bestehen jedoch ausgeprägte Unterschiede stimulativer Zuwendung zwischen den einzelnen Kindern: War das Kind z.B. das Erstgeborene, dann erhielt es eine längere Zuwendung mehr stimulativer, sozialer, taktiler und akustischer Art als das Zweit- oder Drittgeborene. Ebenso lassen sich Unterschiede feststellen, je nachdem wie kräftig oder wie fortgeschritten in der körperlichen Entwicklung ein Kind ist. Darüber hinaus bestimmt neben der körperlichen Beschaffenheit das Geschlecht des Neugeborenen Ausmaß und Art der Stimulation und Zuwendung: Generell ist die Zuwendungszeit bei Neugeborenen zum Jungen länger als zum Mädchen, wobei das Mädchen mehr taktil stimuliert, mehr gestreichelt, während der Junge mehr verbale Zuwendung erhält. Wie bereits angedeutet, läßt sich das Prinzip wechselseitiger Verstärkung: Reagiert das neugeborene durch Aktivität in der Motorik, durch Öffnen der Augen, durch Kopfbewegungen, dann verstärkt die Mutter die Stimulation. Reagiert das Kind hingegen wenig, dann läßt die Mutter in ihrer Stimulation auch nach. Trotz aller Hilflosigkeit des Kindes und seinem totalen Angewie­sensein auf die Pflegeperson werden die Stimulationen nicht einseitig durch sie gesteuert. Sind die Kundgaben des Kindes vorerst „unbewußt“, so lernt es bald, aus den regelmäßig erfolgenden Reaktionen der Mutter, daß sein Schreien diese herbeiruft und gleichzeitig eine Stillung seiner Bedürfnisse erfolgt. Von da ab haben wir es mit einer  ‚instrumentalen Konditionierung‘ zu tun. Das Kind setzt sein Schreien nun gezielt ein, um die Mutter herbeizurufen. Es sieht ihr Verhalten voraus, das heißt, es setzt seine Aktivität mit der der Mutter in Beziehung.

Von großer Bedeutung bei der kindlichen Stimulation ist das unterschiedliche Spielverhalten zwischen den Eltern. Die Vater-Kind-Spiele scheinen demnach für das Kind eine besondere Attraktion bereitzuhalten. Je rauher das Spiel wird, so möchte man annehmen, desto erfreuter und ausgelassener reagieren die Kinder auf den wilden Spielgefährten. Das Spiel scheint jedoch durchaus geschlechtsspezifisch differenziert. So ist der väterliche Umgang mit dem Sohn meist rauher und durch klarere Aufforderungen von Seiten des Sohnes bestimmt. Das Mädchen scheint sich demgegenüber eher, wenn auch mit gleicher Begeisterung, vom väterlichen Engagement leiten zu lassen. Dieser spielerische Zugang zum Kind scheint dem Vater von Beginn an anzuhaften. Es ist sogar anzunehmen, daß die enge Vaterbindung des Kindes durch eben dieses von der Mutter nicht praktizierte rauhe Spielverhalten mit konstituiert wird. Mit diesem ausgelasseneren Spielverhalten setzt der Vater vollkommen andere Akzente in seinem Umgang mit dem Kind als die Mutter, deren Beziehung zu diesem eher durch ihre Pflege und durch ihre sorgende Bemutterung charakterisiert wird. Während die Mutter eher auf die kindliche Sicherheit bedacht ist, ist es meist der Vater, der den Explorationsdrang des Kindes durch sein Spielverhalten fördert und unterstützt und dem Kind dadurch eine größere Erfahrungsbreite vermitteln kann. Darüber hinaus ist anzunehmen, daß der Vater mit diesem Spielverhalten generell zu einem Organisator und Vermittler von intensiven Affekten wird. Durch das oft unvermittelte Verhalten des Vaters lernt das Kind, mit erhöhten Trieb- und Affektspannungen umzugehen, was eine wichtige Voraussetzung für das Erleben starker Liebes- und Rivalitätsgefühle darstellt. Aber nicht nur für das Kind, sondern auch für den Vater bedeutet diese Art des Spiels die Ausbildung einer ganz eigenen und spezifischen Zugangsweise zum Spielgefährten und zum eigenen Selbst.

 

4.3 Die Kinderpflege

In der Literatur findet sich häufig die Kritik, der Vater würde sich an Tätigkeiten, die die Körperpflege des Kindes betreffen, nicht in ausreichendem Maße beteiligen. Zugleich wird aber in vielen Studien darauf hingewiesen, daß die Fähigkeit des Vaters emphatisch auf das Kind einzugehen, sich nur in geringem Maße (wenn überhaupt) von der der Mutter unterscheidet. Nach Fthenakis Untersuchungen, können Väter sich daher durchaus an der Pflege von Kleinkindern beteiligen, wenn ihnen hinreichend Gelegenheit dazu geboten werde, da es im Pflegeverhalten von Müttern und Vätern weit mehr Ähnlichkeiten gebe als Unterschiede. Die Einbindung des Vaters in die Erziehung und Kinderpflege läßt sich natürlich nicht losgelöst von seiner emotionalen Anteilnahme am Familienleben einschätzen. Es finden sich daher Hinweise auf eine erhöhte Bindungsfähigkeit des Vaters, wenn er in die direkte Geburtssituation oder bereits in die Geburtsvorbereitung des Kindes einbezogen wird. Greenberg und Morris sprechen so von einer außergewöhnlichen Anziehungskraft der Neugeborenen, denen in besonderem Maße die Väter unterlägen, die an den Geburtsvorbereitungen teilgenommen hatten.

Eine affektive Auseinandersetzung des Vaters mit seinem Kind kann sicherlich besser stattfinden, wenn er einen direkten Umgang mit dem Kind hat, wenn er eingebunden ist in Tätigkeiten der Kinderpflege (bei der er auch körperlich mit dem Kind in Kontakt tritt) und wenn er von Beginn an am Prozeß der ‚Familiengründung‘ beteiligt ist. Andererseits ist auch hier zu bedenken, daß Vaterschaft kein von der übrigen Familiensituation losgelöster Aspekt ist. Die Einbindung des Vaters kann nur in dem Maße erfolgen, in dem diese von der gesamten Familie gewollt und akzeptiert wird.

 

4.4 Die Sicherheitsgewährende und Schutzfunktion der Eltern

Eine wesentliche Funktion des Bindungsverhaltens, welches die Nähe zur Mutter herstellt bzw. aufrechterhält, wird durch die Gewährleistung des Schutzes vor Gefahren, die das Kind noch nicht kennt, hergestellt. Das Kind ist in seiner frühesten Entwicklung sowohl emotional als auch physisch vollständig darauf angewiesen, daß es sich dieser Schutzfunktion seiner Bezugspersonen gewiß sein kann, um das eigene Überleben zu gewährleisten. Einen wesentlichen Anteil an der psychischen Repräsentanz dieser schutzgewährenden Funktion durch die Eltern entsteht für das Kind neben der direkt beobachteten und wahrgenommenen  schutzgewährenden Anteilnahme der Bezugspersonen dem Kind gegenüber (etwa durch die Befriedigung der kindlichen Bedürfnisse, z.B. Fütterung), aus der beobachteten Kontinuität der elterlichen Verbindung. In der inneren Welt des Kindes beinhaltet die biologische Verbindung mit der Sexualität der leiblichen Eltern die Verknüpfung von körperlicher Beziehung und Liebe. Sie steht für Unabänderlichkeit und für Sicherheit vor Trennung und Liebesverlust. Aus der Verbindung der Eltern, sei es die körperliche oder psychische, leitet sich also für das Kind auch direkt die Kontinuität des eigenen Bindungsverhältnisses und damit die physische und psychische Verbindung zu seinen Eltern ab, da es ihm die notwendige Kontinuität und Sicherheit des Bindungsverhältnisses veranschaulicht. Der exklusive Status der leiblichen Eltern liegt daher, darin, daß diese für immer, unabhängig von Trennung und Tod, Vater und Mutter bleiben.

Diese Ausführungen umreißen bereits die Problematik, die sich bei einer Trennung der Eltern ergeben kann. Wurde dem Kind bisher bereits durch das Bindungsverhältnis der Eltern die eigene, unabänderliche Bindung mit den Eltern und damit der Schutz gegenüber der Außenwelt bestätigt, wird ihm nun vor Augen geführt, daß ein solch intimes Verhältnis durchaus keine Garantie für Kontinuität und Sicherheit bietet. Die reflexive Liebe zwischen ihm und den Eltern wird dem Kind daher nicht mehr die unerschütterliche Sicherheit bieten können, die für dessen Entwicklung notwendig ist. Die Angst vor dem elterlichen Liebesentzug, die das Kind bereits zuvor in Phantasiegebilden gefürchtet hatte, wird in dieser Situation zur Realität.

 

 

Literaturhinweise:

– Lehr, Ulrich: Die Rolle von Mutter und Vater in der frühen Sozialisation des Kindes. In: Therapiewoche 30, 1980.

– Keller, Heidi (Hg.): Handbuch der  Kleinkindforschung. Berlin, Heidelberg 1989.

 Schenk-Danzinger, Lotte:  Entwicklung, Sozialisation, Erziehung. Von der Geburt bis zur Schulfähigkeit. Wien 1985.

 Schütze, Yvonne: Von der Mutter-Kind-Dyade zum familialen System. In: Zeitschrift für Pädagogik, 1982 I.

 Spitz, René A.: Die Entstehung der ersten Objektbeziehungen. Stuttgart 1973.

 Voss, Hans-Georg: Entwicklungspsychologische Familienforschung und Generationenfolge. In: Keller, Heidi: Handbuch der Kleinkindforschung. Heidelberg, Berlin 1989.

– Wolff, Angelika: Vater-Mutter-Kind: Äußere Realität und Familie und die innere Welt des Kindes: In: Analytischer Kinder und Jugendlichentherapie 1995.

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